Vom Fährmann in Herdecke und seinem unheimlichen Fahrgast
Aus Sagenhaftes Ruhrgebiet
Als die Ruhr noch wenig Brücken hatte, gab es an einigen Stellen Fährboote, die die Bauern, Kaufleute, Frauen und Kinder von einem Ufer ans andere brachten. Wollte jemand über den Fluß und das Boot war gerade auf der anderen Seite, so mußte man rufen: »Fährmann, hol über!« Fährmann August saß an einem dämmrigen Abend in seinem Boot am Ufer und stopfte sich den Tabak in die Pfeife. Über den Ruhrwiesen lag ein Nebelstreif. Kein Windhauch rührte sich. Da hörte er plötzlich eine mächtige Stimme rufen: »Holl öwer!« Als er aufschaute, sah er drüben am anderen Ufer eine riesige dunkle Gestalt stehen, die finster aus dem Nebel aufragte. August schrak zusammen. Er hatte niemanden näher kommen hören. Was war das für ein Riese? Das war die Stimme, die ihn in letzter Zeit schon mehrmals gerufen hatte. Immer war es im Dämmerlicht – und jedes Mal, wenn er zum anderen Ufer gekommen war, war niemand zu sehen gewesen. Er starrte hinüber. Nur ein riesiger Schatten stand da. »Holl öwer!«, dröhnte es wieder. August aber wollte sich nicht wieder narren lassen. »Wer ist da?«, rief er zurück. »Ich komme erst, wenn du sagst, wer du bist!« Aber sein Ruf wurde vom Nebel verschluckt. »Holl öwer!«, tönte es drohend und gewaltig zum dritten Mal. Da wurde August zornig. »Dann bleib in Gottes Namen da, wo du bist«, brüllte er, »ich hol dich nicht!« Kaum hatte er den Namen Gottes ausgesprochen, da stieß die dunkle Gestalt ein schreckliches Geheul aus, drohte einmal mit den Fäusten und – ein Blitzstrahl fuhr aus der Erde – war im nächsten Augenblick zerfallen wie Asche im Meer. Der Nebelstreif lag still über dem Ufer. Nur an einer Stelle klaffte eine Lücke. Dem Fährmann August schlotterten die Knie, die Pfeife in seiner Hand zitterte. Keuchend rannte er über die Aue nach Hause, als sei der Teufel hinter ihm her.
Anmerkungen
Mit Aue wird eine Flußlandschaft bezeichnet.
Literaturnachweis
- Schmidt, Ennepe-Ruhr-Kreis, 22
Weitere Sagen aus Herdecke.
Dieser Text wurde folgendem Buch von Dirk Sondermann entnommen:
Bottrop: Henselowsky Boschmann Verlag, 2005
ISBN 3-922750-60-5.
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