Sonntagsspaziergang

Aus Sagenhaftes Ruhrgebiet

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Schloss Steinhausen

Sonntagsspaziergang Winter 1985.

»Gut Steinhausen, in Gartenanlagen und Gebüschen, eine reizende neidenswerthe Besitzung; das weißglänzende Herrenhaus liegt auf der Stelle einer Burg ...« (Schücking-Freiligrath, 325)

Ich ging eines Morgens am Ufer der Ruhr gegenüber von Schloß Steinhausen, dem ehemaligen Sitz der Ritter von Witten, spazieren. Über der Gegend lag dichter Nebel, der mit dem Weiß des frisch gefallenen Schnees verwoben schien. Es war Sonntag und sehr kalt. Unterwegs begegnete mir ein alter Mann, der ebenfalls frühmorgens unterwegs war. Ich wünschte ihm freundlich einen guten Tag. Ein Wort gab das andere: Wir kamen ins Gespräch. Auf seinen ostdeutschen Dialekt angesprochen, erzählte der alte Mann, daß er aus dem Raum Danzig stamme und als Flüchtling in den Westen gekommen sei. Vormals war er als Knecht auf einem großen Hof tätig gewesen. In seiner neuen Heimat hatte er zunächst keine Arbeit gefunden, so nahm er ein Umschulungsangebot wahr und wurde Maurer, denn wiederaufzubauen gab es nach dem Krieg in Deutschland genug. In Witten wohnte er nun schon seit mehr als zwanzig Jahren. Er war froh darüber, daß er nun eine Rente erhielt, und sprach davon, wie gut es ihm doch gehe, wogegen er sich als Knecht nichts habe leisten können.

Während unseres Spazierganges erzählte ich ihm jene merkwürdige Sage, die sich um das alte, im 13. Jahrhundert erbaute Gemäuer von Steinhausen rankt: »Bei Steinhausen soll dereinst ein Zwerg gehaust haben. Es wird von Menschen berichtet, die tot umfielen, nachdem sie ihm ins Angesicht geschaut hatten. Niemand wagte sich in seine Nähe. Bald war die Gegend um Steinhausen menschenleer. Eines Tages kam ein Müllergeselle nach Witten und hörte von diesen Ereignissen. Der Bürgermeister versprach ihm seine hübsche Tochter zur Braut und noch tausend Goldstücke dazu, wenn er dem Schrecken ein Ende machen würde. Der kluge Müller versprach, sein Bestes zu tun, begab sich in den Wald um Steinhausen und hoffte, dem Unhold zu begegnen. Plötzlich polterte es im Gesträuch, und ein kleines Wesen sprang hervor. Eilig wandte der Geselle seinen Kopf ab, zog blitzschnell einen Spiegel aus der Tasche und hielt ihn dem Zwerg vor das Gesicht. Diesen erschreckte sein eigener Anblick so sehr, daß er tot umfiel. Die Wittener konnten nun wieder ohne Angst in den Wald um Steinhausen gehen. Der kluge Müller heiratete die Tochter des Bürgermeisters, und beide lebten glücklich und ohne Sorgen bis an ihr Lebensende.« Hier beendete ich meine Erzählung und wartete auf irgendeine Reaktion des alten Mannes, doch ich wartete vergeblich. Auf mein Fragen hin meinte er, diese Art von Erzählung habe für ihn nichts Merkwürdiges an sich. Er sei manches gewohnt, was mir vielleicht sonderbar erscheinen würde. Wie Sie sich sicher vorstellen können, war ich sehr erstaunt über diese Antwort. Mein Interesse war geweckt: Was mochte er mit seinen Andeutungen gemeint haben? Ich bat ihn also um nähere Auskunft, worauf er etwa Folgendes erzählte: »Zu meiner Aufgabe als Knecht gehörte der Transport von Waren, auch diente ich als Kutscher, wenn die Herrschaften ausfahren wollten. Eines Nachts, ich hatte Getreide ausgeliefert und fuhr nun mit dem zweispännigen Wagen heim, sprang aus einem Busch ein riesengroßer Hund hervor. Er lief neben dem Gespann her. Die Pferde mußte ich nicht erst zu schnellerer Gangart antreiben, denn der Schrecken peitschte sie vorwärts. Der Hund war pechschwarz und hatte einen Baum (!) im Maul. Er lief mit teuflischer Geschwindigkeit neben dem Gespann her. Mir war, als säße mir der Leibhaftige im Nacken, ich wagte nicht, den Blick auf den Hund zu richten. So jagten wir dahin. Nach endloser Zeit, wie mir schien, blickte ich zur Seite, aber da war der Hund verschwunden.« Ich glaubte zunächst, der alte Mann habe seinen Bericht nun beendet, doch nach einer Weile fuhr er fort: »Mein Bruder war eines Nachts zu später Stunde noch unterwegs und wollte den Weg abkürzen. Es war kühl und nebelig. Er wußte, daß jenes Gebiet, das er nun durchqueren mußte, nachts zu meiden war, denn die Abkürzung führte an einem alten Friedhof vorbei. Der Nebel schien immer dichter zu werden, als auf einmal – wie aus dem Nichts – ein mannshoher ›Hund‹ vor ihm stand. Doch war es ein Hund? Das ›Wesen‹ ging aufrecht auf zwei Beinen, sein behaartes Gesicht hatte fast menschliche Züge. Mein Bruder änderte blitzschnell die Richtung, der ›Hund‹ verschwand, tauchte jedoch urplötzlich an anderer Stelle erneut auf. Wieder floh mein Bruder, der gespenstische ›Hund‹ aber verfolgte ihn nicht weiter. Die Abkürzung hat mein Bruder nachts nie wieder gewählt.« – Hier endete seine Erzählung. Können Sie sich vorstellen, wie mir zumute war? Ich erzähle dem alten Mann eine Sage über Steinhausen, die ihn sichtlich unbeeindruckt läßt, und er berichtet mir von ähnlich mysteriösen Begebenheiten, die ihm und seinem Bruder selbst widerfahren sein sollen. Ich fand keine Worte und wollte ihm zunächst nicht recht glauben. Während seiner Berichte hatte ich genau auf seine Mimik und seinen Tonfall geachtet. Vielleicht würde der Ansatz eines schelmischen Lächelns seinen angeblich wahren Ausführungen zuwidersprechen? Doch nichts, er erzählte, als handelte es sich um die alltäglichsten Angelegenheiten, genauso hätte er von seinen Kindern oder von einem Marktbesuch erzählen können. Skeptisch fragte ich, ob er vor der damaligen Kutschfahrt »einiges« getrunken habe. Er versicherte mir jedoch nüchtern gewesen zu sein und sprach ganz selbstverständlich von den merkwürdigen Geschehnissen. Ich war in Gedanken vertieft, als wir wieder am Ausgangspunkt unseres Spaziergangs am Ruhrdeich anlangten. Er sagte, er wohne in einem der Häuser am Thyssen-Stahlwerk, wobei er auf einen grauen Reihenhauskomplex an der Herbeder Straße 75–79 wies. Wir wünschten uns gegenseitig einen schönen Sonntag und verabschiedeten uns. Wieder daheim! – Ich sitze und denke und stelle mir die Frage nach dem Ursprung derartiger Sagen. Hat der alte Mann vielleicht eine ihm bekannte Überlieferung als Tatsache ausgegeben oder entspringen solche merkwürdigen Sagen tatsächlich persönlichen Erlebnissen? Ich kann diese Frage nicht beantworten. Als mir diese Begebenheit widerfuhr, sah ich Werwolf-Sagen mehr oder weniger als Phantasiegebilde an.

Heute betrachte ich diese Art Sagen, die die Grenzen unserer gewohnten Realitätssphäre zu sprengen scheinen, mit anderen Augen: »VAMPIRE UND DIE WISSENSCHAFT« Chemiker erklärt die Sagen von Blutsaugern und Knoblauch: LOS ANGELES. Menschen mit bestimmten Mißbildungen, die in früheren Zeiten von ihren Mitbürgern als »Vampir« oder »Werwolf« bezeichnet und gemieden wurden, waren der Theorie eines kanadischen Wissenschaftlers zufolge vermutlich Opfer einer seltenen Krankheit, der Porphyrie. Diese Stoffwechselkrankheit kann durch Einwirkung von Sonnenlicht und Genuß von Knoblauch verschlimmert werden. Wissenschaftler hatten schon früher die Auffassung vertreten, daß »Werwölfe« oder »Wolfsmenschen« – Personen, die sich nach alter Überlieferung bei Vollmond in reißende Wölfe verwandeln konnten – in Wirklichkeit an einer seltenen Form der Porphyrie litten.

Der Chemieprofessor David Dolphin von der Universität der kanadischen Provinz British Columbia hat die Porphyrie-Theorie jetzt auch auf die Vampire, die in der Roman-und Filmgestalt »Graf Dracula« verkörperten Blutsauger, ausgedehnt. Die Porphyrie hat ihren Namen von den Porphyrinen – rotvioletten Blutfarbstoffen, die verstärkte Lichtempfindlichkeit bewirken. Die krankhafte Entstehung von Porphyrinen wird durch eine Störung bei der Bildung von Hämoglobin (Blutfarbstoff) verursacht. Heutzutage kann die Porphyrie durch Blutfarbstoff-Injektionen behandelt werden. In alten Zeiten jedoch, so meinte Professor Dolphin bei einer Tagung der Amerikanischen Gesellschaft für die Förderung der Wissenschaft in Los Angeles, wäre es für die an der Krankheit leidenden Menschen tatsächlich das Beste gewesen, »eine Menge Blut zu trinken«. Dolphin zeigte Dias von Menschen, die Nasen und Finger verloren haben sollen, weil sie Sonnenlicht ausgesetzt waren. Seinen Ausführungen zufolge können Opfer der Krankheit durch Sonnenlicht schrecklich entstellt werden. Lippen und Gaumen können schrumpfen, so daß die Zähne hervorstehen. Körper und Gesicht können haarig werden wie bei einem »Werwolf«. »Stellen Sie sich die Art und Weise vor, wie ein Mensch im Mittelalter behandelt worden wäre, der nur nachts aus dem Haus ging, behaart und mit langen Zähnen, ein Mensch, der furchtbar entstellt, wie ein Tier aussah«, sagte der Chemiker. Auch der alte Volksglaube, daß Knoblauch Vampire abschreckte, paßt laut Dolphin in die Theorie. Das in Knoblauch enthaltene Dialkydisulfid ähnele nämlich Substanzen, die durch Zerstörung eines Bluteiweißstoffes namens Cytochrome p450 eine Verschlimmerung der Porphyrie hervorrufen. (Frankfurter Rundschau, 1. Juni 1985)

Anmerkungen

Haus Steinhausen, heute wieder ein ausflugswertes Café und Restaurant, liegt Auf Steinhausen 30. Der in der ehemaligen Grafschaft Mark liegende Adelssitz wurde im 13. Jahrhundert von der Herrn von Witten zur Sicherung des Ruhrübergangs

erbaut. Hermann von Witten setzte 1407 Dortmunder Kaufleute zwecks Lösegelderpressung gefangen, was eine langjährige Fehde mit der freien Reichsstadt zur Folge hatte. In deren Verlauf zerstörten Dortmunder Söldner 1434 Haus Steinhausen, woraufhin die Familie 1470 Haus Berge/Witten (siehe Sage 78) auf dem gegenüberliegenden Ruhrufer errichtete und in der Folgezeit dort seßhaft wurde. Erst 1529 ließ der Besitzer von Haus Hardenstein (siehe Sagen 73–75) den Adelssitz wieder aufbauen.

Haus Steinhausen (WGS 84: 51.42815° 7.322433°)

Literaturnachweis

  • Sondermann, BS, 152–156 (mündlich 1985. Die Sage von Haus Steinhausen findet sich in ähnlicher Form in: Von Raubrittern und Kobolden,25f. überliefert von Christina Dimitriau und Karin Lochner aus Witten.)


Hier finden Sie: Haus Steinhausen (51.42815° Breite, 7.322433° Länge)

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Dieser Text wurde folgendem Buch von Dirk Sondermann entnommen:

Ruhrsagen. Von Ruhrort bis Ruhrkopf.
Bottrop: Henselowsky Boschmann Verlag, 2005
ISBN 3-922750-60-5.





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