Sagen-haftes Masuren

Aus Sagenhaftes Ruhrgebiet

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Stinthengst (Wappentier von Mikołajki)
»Im Süden Ostpreußens, zwischen Torfmooren und sandiger Öde, zwischen verborgenen Seen und Kiefernwäldern waren wir Masuren zu Hause – eine Mischung aus pruzzischen Elementen und polnischen, aus brandenburgischen, salzburgischen und russischen. Meine Heimat lag sozusagen im Rücken der Geschichte; sie hat keine berühmten Physiker hervorgebracht, keine Rollschuhmeister oder Präsidenten; was hier vielmehr gefunden wurde, war das unscheinbare Gold der menschlichen Gesellschaft: Holzarbeiter und Bauern, Fischer, Deputatarbeiter, kleine Handwerker und Besenbinder. Gleichgültig und geduldig lebten sie ihre Tage, und wenn sie bei uns miteinander sprachen, so erzählten sie von uralten Neuigkeiten, von der Schafschur und vom Torfstechen, vom Vollmond und seinem Einfluss auf neue Kartoffeln, vom Borkenkäfer oder von der Liebe. Und doch besaßen sie etwas durchaus Originales – ein Psychiater nannte es einmal ‚die unterschwellige Intelligenz‘. Das heißt: eine Intelligenz ,die Außenstehenden rätselhaft erscheint, die auf erhabene Weise unbegreiflich ist und sich jeder Beurteilung nach langläufigen Maßstäben versagt. Und sie besaßen eine Seele, zu deren Eigenarten blitzhafte Schläue gehörte und schwerfällige Tücke, tapsige Zärtlichkeit und eine rührende Geduld.« Siegfried Lenz

Bochum, den 1. Juli 199-

Ob der alte Wartburg wirklich die weite Urlaubsreise durchstehen wird? Immerhin hat er schon zwölf Jahre auf dem Buckel. Mit seinen 3-Zylindern soll dieser qualmende Zweitakter tatsächlich die Berge des Riesengebirges, des Rübezahls Reich, erklimmen, um anschließend die weite Strecke nach Masuren durchzustehen?

Schließlich überzeugte mich mein Schwiegervater. Er hat seinen alten Wagen völlig durchgecheckt: Rost entfernt, den Motor überprüft. Glühbirnen ausgewechselt, den Reifendruck kontrolliert und, und...

Ja, Masuren soll es sein! Immer wieder erzählt mir meine Mutter von ihrer Oma, die, sooft sie von ihrer ehemaligen Heimat Masuren sprach, ins Schwärmen geriet. Sicher, meine Urgroßmutter ist schon vor langer Zeit gestorben – ich habe sie kaum gekannt – aber ihre Erzählungen blieben, dank meiner Mutter, auch bei mir lebendig. Häufig sprach sie von ihrer fernen, tief in Ostpreußen gelegenen Heimat. Mehrere Tage waren damals nötig, um mit der Eisenbahn, die von Königsberg kam, über Berlin ins Ruhrgebiet zu fahren.

Von vielen Seen und von dichten Wäldern sprach meine Urgroßmutter, von purpurnen Sonnenuntergängen und von dem herrschaftlich-kaiserlichen Jagdschloss nahe der Romintener Heide: dort war sie in der Küche beschäftigt gewesen. Ihr Verlobter (mein späterer Urgroßvater) fand in der Gegend leider keine Arbeit und ließ sich notgedrungen von einem der zahllos, nicht nur in Ostpreußen umherziehenden Werber, zum Dienst in einem der großen Bergwerke im rheinisch-westfälischen Industriegebiet anwerben. So kam er schließlich um die Jahrhundertwende mit vielen anderen Landsleuten in die aufblühende Industriestadt Langendreer – die damals noch selbständig war – und begann eine Bergmannslaufbahn als Hilfshauer auf der Zeche Mansfeld am Alten Bahnhof. Meine Urgroßmutter folgte ihrem Verlobten bald und verließ für immer ihre vielgeliebte Heimat Masuren. Jedoch blieb ihr die Erinnerung ,die ihr niemand nehmen konnte. Auch ich freue mich, nun endlich dieses Land kennen zu lernen! Nach zwei Wochen des Wanderns in den Fußstapfen Rübezahls im Riesengebirge – die Schneekoppe hinauf, durch den Riesengrund, längs der Bärengrundbaude, über den Ziegenrücken und durch Hirschberg – fuhren wir mit Aufenthalt in Breslau und Krakau, über Warschau Richtung Südosten und immer geradeaus.

Im Unterschied zur DDR wurden in Polen die landwirtschaftlichen Betriebe nie weitgehend zu großen LPG's (Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften) zusammengeschlossen, so dass viele kleine Äcker zu sehen sind. Große Landmaschinen einzusetzen lohnt hier oft nicht. Zum Trocknen auf kleinen Feldern aufgestellte Getreidegarben durchziehen wie eine Goldspur das Land, während auf anderen Äckern das Korn noch im heißen Sommerwind reifend auf die Ernte wartet.

Ja, heiß ist es! Häufig steigt das Thermometer mittags auf über 30° C.

Wir fahren weiter. Je tiefer wir in Richtung Südosten vorstoßen, je spärlicher und kleiner werden die Orte. Bürgersteige gibt es kaum noch. Manchmal begegnen uns Pferdefuhrwerke. Vereinzelt ziehen Störche durch die vor Hitze flimmernde Luft. Als gegen Spätnachmittag ein Fuchs unseren Weg kreuzt, ahnen wir, dass die Hasen ebenfalls nicht mehr weit sein können und wir somit kurz vor unserem Ziel sind. So erreichen wir schließlich das masurische Städtchen Lyck, die Geburtsstadt von Siegfried Lenz, die er in seinem eingangs erwähnten Buch »zärtlich Suleyken« nennt. Der Ort liegt an einem See. Das ist nichts Besonderes, denn fast alle Orte Masurens liegen an einem oder mehreren, großen oder kleinen Seen. Von Lyck aus sind es nur noch 20 Kilometer, dann erreichen wir den Zeltplatz in Starych Jucha. Unser Wartburg hat trotz dieser Hitze tatsächlich ohne Murren ausgehalten. Der Campingplatz liegt natürlich auch an einem See. Schnell ist das Zelt mit Sicht zum Gewässer auf einer Wiese aufgebaut. Die über den See untergehende Sonne krönt in den schönsten Purpurtönen den Abend, bevor wir dann vor den zahlreichen Mücken ins Zelt Reißaus nehmen. In den nächsten Tagen starteten wir unsere Erkundungsfahrten. Zuerst fahren wir in die Romintener Heide, in einen direkt an der polnisch-russischen Grenze gelegenen Ort namens Zytkiemy. Vor dem Krieg nannte man ihn wohl Szittkehmen oder so ähnlich. Genauere Auskunft kann der verblichene Namenszug an dem backsteinernen Gebäude der ehemaligen Reichsbahn nicht mehr geben. Der Bahnhof dient heute als Wohnhaus. Die Schienen und Holzschwellen der Gleise wurden irgendwann nach 1945 entfernt. Ein rostiger Tank, der vormals für Dampflokomotiven Wasser bereitstellte und ein langer Bahndamm, auf dem es sich herrlich spazieren lässt, erinnern noch an die Strecke, die wohl einst in Richtung Insterburg (heute russ. Tschernjachowsk) und weiter nach Königsberg geführt haben mag.

Zytkiejmy scheint wie aus einem alten Heimatfilm entnommen: sanfte Hügel, klare Seen und eine für Stadtmenschen nicht mehr gewohnte Ruhe finden wir hier. Überall grünt und blüht es. Alte ungepflasterte Alleen führen zu augenscheinlich noch älteren Bauernhöfen, auf denen Störche nisten, in denen Kühe muhen, Hühner gackern, Schweine quieken, Gänse flattern und Misthaufen dampfen. Tatsächlich fühlt man sich in vergangene Zeiten zurückversetzt. An einem weiteren Tag machen wir einen Ausflug nach Nikolaiken (pol. Mikolajki),dem Venedig Masurens, eine der bekanntesten Sommerfrischen des Landes. Hier legen die großen Ausflugsdampfer ab. In Nikolaiken fand gerade ein Shanty-Wettbewerb statt, so dass uns viele Urlauber entgegen strömen. Überhaupt schienen Touristen aus dem Westen – fast ausnahmslos Deutsche – das Städtchen in Beschlag genommen zu haben, mit allen positiven und negativen Auswirkungen, die auch aus anderen aufstrebenden Tourismusgebieten bekannt sind. Da ich schon auf der Hinfahrt großen Appetit hatte, zähle ich ausnahmsweise die vielen Imbissbuden, die frische und noch warme, geräucherte Aale, Hechte, Stinte und andere schmackhafte Fische zum Kauf anbieten, zu den positiven Auswirkungen des örtlichen Fremdenverkehrs.

Die Stinte sind bei Nikolaiken besonders zahlreich, weshalb die folgende Sage auch bei den nach dem Zweiten Weltkrieg in der Region angesiedelten Polen bis heute bekannt ist:

»DER NIKOLAIKER STINTHENGST
Im Spirding(-see) lebte einst ein gewaltiger silberner Fisch, in Gestalt und Aussehen einem Stint gleich, der als König über die unzählbare Menge der Stinte herrschte und für die Mehrung seiner kleinen Untertanen eifrig sorgte. Nikolaiker Fischer fingen ihn eines Tages mit ihren starken Netzen und brachten ihn in freudigem Triumph nach Hause. Der umsichtige Stadtrat verhinderte weise die Tötung des wunderbaren Tieres, wollte aber auch die seltene Beute nicht wieder freigeben, und so wurde beschlossen, den Stinthengst in der Nähe der Stadtbrücke an eine eiserne Kette zu legen. Da liegt er nun schon jahrzehntelang, angebunden, meistens in dunkeler Tiefe. Von Zeit zu Zeit aber taucht er auf und erscheint den bewundernden Blicken der Glücklichen, die zufällig auf der Brücke stehen. Seine Gefangenschaft aber bewirkt, daß die Stintschwärme um Nikolaiken kreisen und den Fischern lohnende Fänge einbringen.« (Hinze, Diederichs)

Nach zwei Wochen Urlaub im alten Ostpreußen verstehe ich die Liebe meiner Urgroßmutter zu ihrer Heimat. Diesen Landstrich muss man einfach ins Herz schließen!

Die Rominte durchfließt die Rominter Heide und mündet bei Gumbinnen in die Pissa. Nach der Rominter Heide ist auch eine gleichnamige Straße in Langendreer benannt. Der Eingang zur ehemaligen Zeche Mansfeld befindet sich am Ende der Geheimrat Leuschner-Straße in Langendreer.

Rominter Heide (WGS 84: 51.488395° 51.488395°)

Literaturnachweis

  • Eigenbericht; Lenz, 117;
  • Hinze, Diederichs, 270


Hier finden Sie: Rominter Heide (51.488395° Breite, 7.333975° Länge)

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Dieser Text wurde folgendem Buch von Dirk Sondermann entnommen:

Bochumer Sagenbuch.
Verlag Pomp, 2004
ISBN 978-3893550678.




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