Königreich Stiepel

Aus Sagenhaftes Ruhrgebiet

Wechseln zu: Navigation, Suche
Datei:Ruhrtal.JPG
Südwestteil Stiepels, rechts auf halber Höhe die 1000-jährige Stiepeler Dorfkirche, im Vordergrund die Ruhr. Blick von der Burg Blankenstein in Nordrichtung

Anfang des 19. Jahrhunderts hielt Napoleon, Kaiser der Franzosen, die linksrheinischen deutschen Gebiete besetzt; seinerzeit gehörte ein Großteil des heutigen Ruhrgebietes zum Königreich Preußen. Preußen wurde bedrängt und fand in Sachsen und Russland Verbündete gegen die Machtansprüche des französischen Herrschers. Ein an Napoleon gestelltes Ultimatum mit der Forderung nach Abzug aller rechtsrheinisch stehenden Truppen blieb unerfüllt und führte 1806 zum sogenannten 4. Koalitionskrieg. Noch im selben Jahr gewann Napoleon diese militärische Auseinandersetzung und Preußen wurde von französischen Soldaten eingenommen.

Wir befinden uns im Jahre 1806. Das ganze Ruhrgebiet ist von den napoleonischen Truppen besetzt... Das ganze Ruhrgebiet? – Nein! Ein von unbeugsamen Stiepelern bevölkertes Dorf hört nicht auf Widerstand zu leisten.

Und das Leben ist nicht leicht für die französischen Soldaten... Die napoleonischen Truppen sollten nun auch den Landkreis Bochum und die umliegenden Ortschaften besetzen. So marschierte ein französischer Offizier mit einer Kompanie – nachdem die Stadt Bochum übergeben worden war – in Richtung Süden, immer der Landstraße entlang, um weitere Dörfer einzunehmen. Sie marschierten und marschierten, als sie, noch in einiger Entfernung, eine mittelgroße Ortschaft vor sich liegen sahen.

Ach, wie freute sich der Offizier, auch dieses Dorf dem großen napoleonischen Kaiserreich einverleiben zu können. Gleich marschierten die Soldaten doppelt so schnell, und sie erblickten bald ein Ortsschild. Noch war der Name undeutlich zu erkennen. Sie kamen näher – nun war das Schild erreicht. Doch was war das? Dort stand geschrieben: »KÖNIGREICH STIEPEL«! Der Offizier stutzte..., suchte seinen Marschbefehl – ja, da stand geschrieben, er solle den Landkreis Bochum nebst umliegende Ortschaften besetzen, aber ein fremdes Königreich namens STIEPEL war hier nicht erwähnt! Was nun?

Der Offizier überlegte: »Ich kann doch nicht auf eigene Faust ein Königreich einnehmen! Vielleicht steht der hiesige Monarch sogar in einem freundschaftlichen Verhältnis zu Frankreich? – Falsches Verhalten gäbe womöglich böse diplomatische Verwicklungen auf höchster politischer Ebene! Das würde Ärger mit sich bringen, und mit der Beförderung wäre es dann wohl auch vorbei! Das Argument zog. »HALT! KEHRT!«, rief er. Und so marschierte der Offizier mit der Kompanie wieder zum Hauptquartier zurück.

Dort angekommen, knallte er seinem Vorgesetzten den Marschbefehl auf den Tisch und meinte: »Na, Sie sind mir der Richtige, geben mir den Auftrag, Bochum nebst den umliegenden Orten zu besetzen, aber von einem »KÖNIGREICH STIEPEL«, welches ich irrtümlicherweise beinahe auch besetzt hätte, erwähnten Sie nichts!« »KÖNIGREICH STIEPEL?«, meinte der Vorgesetzte, »nie gehört!« Er kramte die Landkarten hervor, betrachtete sie und sprach: »Hier liegt Bochum, dort Langendreer, Querenburg, Weitmar, – Stiepel? Stiepel! Aber von einem Königreich steht hier nichts vermerkt!!!« Da fiel es den Offizieren wie Schuppen von den Augen – die Stiepeler Bürger hatten sich wohl einen Scherz erlaubt und einfach »KÖNIGREICH« neben den Ortsnamen geschrieben, um die französischen Soldaten in die Irre zu leiten.

Die Offiziere konnten sich des Schmunzelns kaum erwehren, waren sie doch einer »tollen Münchhausiade« auf den Leim gegangen. Daher, zwei Tage später, machte sich die Kompanie wieder auf den Weg und nahm Stiepel, das seltsame Königreich, ein. Doch immerhin, immerhin – dank ihrer Schlitzohrigkeit brauchten die Stiepeler zwei Tage weniger die französische Besatzung zu erdulden.

Politisch betrachtet hatte Stiepel eine auffällige Sonderstellung in der Region. Der Ort lag zwar in der Grafschaft Mark, bildete aber, ebenso wie eine Hand voll weiterer Siedlungen, einen eigenen Herrschaftsbezirk. Nicht die Grafen von der Mark waren Lehnsherren in Stiepel, sondern die Edelherren von Lippe in Detmold. Charakteristische Hoheitsrechte, wie die Gerichtsbarkeit, das Kirchen- und Steuerwesen usw. wurden innerhalb der Herrschaft Stiepel von dem örtlichen Ritter (Lehnsnehmer) wahrgenommen. Die weitgehende politische Eigenständigkeit des Ortes – Detmold war weit entfernt – führte zu einem ausgeprägten lokalen Selbstbewusstsein der Bewohner, was wiederum dazu führte, dass manche von ihnen den Ort »Halsgericht Stiepel« oder gar »Königreich Stiepel« zu nennen pflegten.

Nicht nur gegenüber den Franzosen zeigten sich unsere Vorfahren recht starrköpfig. Auch der Landesvater der Provinz Westfalen, König Friedrich Wilhelm von Preußen meinte, das Verhalten seiner westälischen Landeskinder sei am besten mit den Launen eines Dackels zu vergleichen: »Wenn man ihn ruft kommt er oder er kommt nicht!« Dietrich von Steinen, der Verfasser der Westfälischen Geschichte, führt um 1790 an: »Der Preußenkönig, politisch mehr nach Osten gerichtet, betrachtet die Westfalen so unverständlich, wie vielleicht der erste Forschungsreisende die Ureinwohner am Amazonas.« »Für die Preußen sei die Grafschaft Mark (also unsere Gegend) größtenteils unter die unbekannten Länder zu rechnen wie die (zu Indien gehörenden) malabarischen Inseln«.

Wahrscheinlich mag auch folgender Tatbestand zum negativen Bild beigetragen haben, welches die preußische Obrigkeit von den Bewohnern ihrer Provinz Westfalen zu haben schien:

Als 1792 in Bochum Rekruten für den Krieg zur Niederschlagung der Französischen Revolution ausgehoben werden sollten, verschwanden die zum Militärdienst bestimmten Soldaten spurlos. Auch ein zweiter Rekrutierungsversuch schlug fehl. Beim dritten Anlauf konnten zwei von zwanzig Männern erwischt werden. Der eine war jedoch für die Armee zu klein, der andere musste unter Bewachung zur Sammelstelle nach Hamm marschieren. Beim Regiment angekommen, wurde dieser als völlig untauglich klassifiziert und zurück nach Hause geschickt. Die preußischen Behörden schäumten vor Wut, die Bochumer amüsierten sich.

Die »alten Stiepeler« müssen schon »seltsame Käuze« gewesen sein. Von einem meiner Vorfahren (?) schreibt Wilhelm Dickten:

Warum man gerade in Stiepel die Hauptstraße so kreuz und quer durch die Gemeinde gebaut hat, ist wohl den wenigsten bekannt. Auch daran hat der Gemeindevorsteher Sondermann mitgewirkt. Sondermann, der eine Schnapsfabrik hatte, belieferte fast sämtliche Wirte in Stiepel mit Spirituosen. Als nun die Chaussee, die heutige -Kemnader Straße ausgebaut wurde, war es klar, dass die Straße an sämtlichen Wirtschaften vorbeiführen musste. Sondermann regelte das; denn sonst wäre ja auch sein Geschäft zurückgegangen. Darum ist die -Kemnader Straße, an der so viele Wirtschaften lagen, so krumm geraten.

Anmerkungen

Sondermann war von 1876-81 und 1888-94 Gemeindevorsteher in Stiepel (Amt Blankenstein).

Sondermanns Väter kamen aus dem Sauerland, aus Olpe-Sondern, wo fast alle Bewohner Sondermann hießen. An sich wollte ein Teil der Familie über Rotterdam nach Amerika auswandern, ist aber – fragen Sie mich nicht wieso – im Raum Bochum hängengeblieben und hat in der Folgezeit »die Welt beglückt« als Ortsvorsteher von Stiepel, als Oberbürgermeister von Dortmund, als Bochumer Geschichtenerzähler, als...

Hof Sondermann wurde um 1975 beim Bau des Kemnader Stausees abgerissen. Er lag hinter dem am Parkplatz gelegenen Minigolfplatz an der Oveneystr. Heute ist dort ein mehrere Meter hoher künstlicher Hügel aus Stauseeaushub angelegt.

Multimedia

Gelesen von Gisela Schnelle-Parker, Aufnahme und Bearbeitung von Robin Parker.



Literaturnachweis

  • Nach mündlichen Mitteilungen überliefert von D. Sondermann, 1990; Dickten, 3. Der Autor führt noch vier weitere Anekdoten von Sondermann an.




Weitere Sagen aus Bochum.



Dieser Text wurde folgendem Buch von Dirk Sondermann entnommen:

Bochumer Sagenbuch.
Verlag Pomp, 2004
ISBN 978-3893550678.




Der Text ist urheberrechtlich geschützt. Nähere Informationen: siehe Impressum.

Ruhr2010Logo
Redaktion