Emscher-Neck und Emscher-Nixe

Aus Sagenhaftes Ruhrgebiet

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Vor undenklichen Zeiten breitete sich draußen im Emscherbruch ein großer und tiefer See aus. Sein Ufer war in breitem Gürtel bestanden mit Bäumen, gegen welche unsere höchsten Fichten und Tannen und die dicksten Buchen und Eichen nur Zwerge waren. An den Kiefenstämmen rankten Schlingpflanzen empor, die sich dann von Ast zu Ast, von Baum zu Baum streckten. Sie fügten der Größe und Dichte des Waldes noch Wirrnis und schier Undurchdringlichkeit hinzu. Die hohen Bäume spiegelten sich im See wider, und so sah es aus, als ob ein zweiter Wald mit den Baumkronen nach unten in den See wüchse und geheimsinnig andeute wolle, dass da unten Verborgenes und Geheimes eine Heimstätte habe.

Mitten in dem See erhob sich eine rundförmige Insel. Mächtige Farnwedel umsäumten deren Rand. Aber nicht nach außen hin, nach dem Seespiegel zu, luden die Wedel aus, sondern nach oben, und dann nach innen hin schlossen sie sich wie eine mächtige spitze Domkuppel. Die Farnwedel bildeten das Dach der Wasserburg eines Neck. Sie reichte tief, tief nach unten, bis auf den Boden des Sees, und alles an und in ihr war aus Wasser: die Wände und die Fenster, die Tische und die Bänke, ja selbst die Uhr war eine Wasseruhr. Sie zeigte freilich die Zeit nicht nach Minuten und Stunden an, sondern nach Jahrtausenden und Jahrmillionen.

In diesem Wasserschloß wohnte einsam der Emscher-Neck. Er war ein hässlicher Kerl, und man wusste nicht so recht, war er ein Mensch oder ein Tier. Seine Augen glotzten aus dem Kopf wie zwei Kegelkugeln, sein Bart und Kopfhaar strähnten hernieder wie grüne Glockenseile. Sein Mund war so breit und weit, dass eine Postkutsche hätte hineinfahren können. Dort unten in seinem Schloss lebte der Emscher-Neck einsam und ungesellig, mürrisch und wütend, und manchmal peitschte er die Wassermassen so heftig durcheinander, dass der Schaum haushoch aufspritze. Nur eine Nixfrau hätte der Wassermann gern gehabt! Auf dem Spiegel des Sees schwammen runde Seeblätter, so groß wie ein Wagenrad, und auf der Mitte jedes Blattes angewachsen lebte ein Elfchen, kaum so groß wie der Daumen des Emscher-Neck. Die Elfchen waren ein gar schelmisches, durchtriebenes Völkchen. Sie kicherten und wollten sich vor Lachen wälzen, wenn sie den griesgrämigen Neck mit seinen Glotzaugen und seinem Höhlenmund und seinen grünen Bartsträhnen sahen. Wenn der Neck aber nach den ungezogenen Elfchen hinsah, so nahmen sie sich sehr zusammen und machten die ernsteste und unschuldvollste Miene von der Welt. Und da der Neck jeden Tag einmal sein ganzes Wassergebiet durchschwamm, so hatten die Elfchen auch jeden Tag ihren Spaß. Der Neck beachtete das kleine Elfengesindel kaum, es war ihm eine minderwertige, verächtliche Gesellschaft. Er wollte ja eine richtige Nixfrau haben!

Nun stand am äußersten Rand der Insel ein Riesenbaum, der sich schrägüber neigte nach dem Landufer hin, und am Landufer stand auch ein Riesenbaum, der sich dem Riesenbaum auf der Insel zuneigte. Die beiden Bäume kamen oben so nahe zusammen, daß ihre Wipfel einander küssen konnten. In halber Höhe der beiden Baumstämme spannten sich Schlingpflanzen wie eine Girlande von dem einen Baum zum andern und bildeten eine Brücke. Wagte je einmal eine Jungfrau, unter der Naturbrücke hindurchzugondeln, so war sie dem Emscher-Neck als dessen Emscher-Nixe verfallen.

Auf der Brücke lustwandelte zuweilen der Neck und hielt Ausguck nach einer etwa herannahenden Jungfrau. Aber weit sehen konnte er nicht, denn erstens war der Wald zu dicht, und zweites brütete über dem See ein so dichter, feuchtheißer Wasserschwaden, dass die ganze Seen- und Waldlandschaft wie in Nebel getaucht erschien. Die Sonne hatte wirklich Mühe, mit ihren Stahlen durchzudringen.

Für die Gondelfahrt einer etwa nahenden Jungfrau hatte der Neck in einer malerisch gelegenen Bucht gen Osten immer ein Fahrzeug bereitstehen. Dieses war reichlich mit berauschend duftenden Rosen geschmückt und mit einem Doppelruder versehen. Lange, lange freilich stand die Gondel schon unbenutzt da. Aber der Neck hatte das Warten gelernt!

Da sah der Neck eines Tages von Sonnenaufgang her einen hellen Schein durch das Dickicht brechen. Immer heller wurde es, und bald bemerkte der Neck von seiner Brücke aus zu seiner größten Überraschung und Freude eine Jungfrauengestalt nahen. Ihr Kleid war so weiß und glänzend, dass es ihm fast das Auge blendete. Das Haar floss der Jungfrau in langen Sonnengoldlocken über die Schulter. Ihr Ohrgehäng blitzte in sieben Farben. War die Jungfrau ein irdisches Menschenkind? War sie ein Kind der Sonne? Der Emscher-Neck freute sich schon seines guten Fanges. Wird die Jungfrau, berauscht von dem Rosenduft, in die Gondel steigen? Das war die Frage, die den Neck vor innerem Entzücken zum Erbeben brachte. Siehe da, die Jungfrau steht schon nachsinnlich am Ufer vor der Gondel, unschlüssig zunächst, was sie beginnen solle. Dann: halb gezwungen, halb freiwillig setzt sie einen Fuß nach dem andern in die Gondel und lässt sich auf der Sitzbank nieder. Der Neck springt, sich vor Freude überschlagend, von der Brücke hinab in den See. Nun hat er gewonnenes Spiel! Das Doppelruder setzt sich von selber in Bewegung, und die Gondel zieht leise und sanft wiegend durchs Wasser und - - unter der Brücke hindurch. Jetzt ist die Jungfrau die Emscher-Nixe und die Gemahlin des Emscher-Neck! Weiter fährt die Gondel von selber bis an die Insel. Da hebt sich aus dem Wasser eine Hand. Diese fasst den Gondelbord, schaukelt die Gondel leicht seitwärts und legte sie sachte kieloben.

Die Jungfrau ist so unter der Gondel geborgen. Der Neck empfängt die Jungfrau, zieht sie tief und tiefer, bis auf den Grund seines Wasserschlosses. Da sitzt nun die Jungfrau, die Emscher-Nixe, als Gefangene des Emscher-Neck. »Jetzt bist du mein!« ruft entzückt der Emscher-Neck. »Niemand wird dich mir entreißen können, wenn er nicht das einzige Zauberwort spricht. Dieses Wort aber weiß nur ich allein, und ich werde mich wohl hüten, es zu offenbaren. Ich werde es nicht einmal laut für mich selber aussprechen. Denn wenn du es hörtest, könntest du es nachsprechen und hinaus ins Sonnenland zurückkehren.«

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Emscherquellhof

Ein loses Elfchen, das den lieben langen Tag nichts zu tun hatte auf der Mitte seines großen Seeblattes, machte einen Reim auf den Neck. Das musikalische Seefräulein auf dem Nachbarblatt musste eine Melodie dazu zu bauen. Es dauerte nicht lange, so kannte und konnte die ganze Schar der Seejungferchen Wort und Weise. Und wenn dann der alte Neck seine gewohnte tägliche Seereise machte und sein nasses Reich fauchend und prustend durchraste, so klang es wie ganz leises Flötenspiel über den ganzen See:

Bleib lieber am Fleck,
du hässlicher Geck!
Schön - Nix wird sonst keck
und läuft dir noch weg.
Erspar dir den Schreck –
bleib lieber am Fleck!
Neck neckneck, Neckneck!

Ein Glück war es für die ungezogenen Elfchen, dass der Neck seines lauten Wesens halber nichts von dem Spott- und Neckgesang verstehen konnte! Wer weiß, was sonst geschehen wäre!

Der Emscher-Neck hielt Wort; das Zauberwort ging niemals über seine Lippen, und die Jungfrau blieb also weiterhin seine Emscher-Nixe. Ihr Lichtkleid verwandelte sich in ein schwarzes, ja alles an der Jungfrau ward schwarz, tiefschwarz, sie selber ward schließlich schwarz wie die Nacht und zudem hart wie Stein.

So hielt sie eine undenkliche Zeit aus da unten im Reiche des Emscher-Neck. Eines Tages war da unten im dunklen Reich ein Bohren und Pochen und Schlagen, und es dauerte nicht lange, so wachte die Jungfrau auf und war alsbald doch wieder oben im Sonnenland. Wie kam denn das? Ein Mann hatte da unten das Zauberwort gesprochen: »Glück Auf!«

Anmerkung

Die Straße Neuer Weg führt durch einen Teil des vormals ausgedehnten Emscherbruchs.

Emscherquellhof (WGS 84: 51° 29' 29" 7° 36' 45")

Multimedia

Gelesen von Gisela Schnelle-Parker, Aufnahme und Bearbeitung von Robin Parker.



Literaturnachweis

  • Grasreiner, 180-184


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Diese Sage folgt der Themenroute 22 – Mythos Ruhrgebiet der Route der Industriekultur des Regionalverbandes Ruhr.
Der RVR bietet zum Thema »Emscher-Quelle« folgende Informationen.


Hier finden Sie: Emscherquelle (51.491389° Breite, 7.6125° Länge)

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Dieser Text wurde folgendem Buch von Dirk Sondermann entnommen:

Emschersagen. Von der Mündung bis zur Quelle.
Bottrop: Henselowsky Boschmann Verlag, 2006
ISBN 3-922750-66-4.




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