Die Vorbedrifte
Aus Sagenhaftes Ruhrgebiet
Das war der alten Tante »Antrin« (Anna Katharina) eine harte Forderung, dass ihr Bruder, ein rechtschaffener, frommer Großbauer in Höntrop, nicht haben wollte, dass sie von der »Vorbedrifte« reden durfte. Vor allen Dingen litt er es nicht, dass sie in Gegenwart der Kinder den alten Aberglauben von dem Vorhersehen von Tod, Feuer und Unglück auskramte. Er wusste ihr immer eine Reihe von Bibelstellen vorzuhalten, dass man Zeichen nicht deuten solle. Sie war aber fest davon überzeugt, dass es Leute gäbe, die Menschen und Tiere behexen könnten und wiederum andere, die durch Besprechen, blutende Wunden stillen und kranke Tiere heilen könnten. Als vor einiger Zeit die große »Blässe nicht fressen wollte, sah ihr Bruder, als er zufällig durch den Stall ging, dass sie der Kuh eine Mannshose um die Hörner gewunden hatte, um sie so schneller wieder gesund zu machen.
Um so freier fühlte sieh Tante Antrin aber, wenn sie mit ihrer Freundin, der alten Schlenkhoffschen, hinter der alten Johannis- und Stachelbeer-Hecke saß, die die nachbarlichen Gärten trennte, und von dem reden durfte, was ihr immer auf dem Herzen lag. Für die Kinder aber waren es Augenblicke heimlichen Gruselns, wenn sie, auf der andern Seite der Hecke liegend, den beiden Alten zuhören konnten.Was wussten sie da nicht zu erzählen! Als das kleine Söhnchen vor einem Jahre starb, hatte Tante Antrin den Tod schon lange vorausgesehen. Als sie eines Tages den Leinenbolzen auseinanderrollte, um ihm ein Hemdchen zuzuschneiden, sah sie deutlich schwarze, kreuzähnliche Zeichen darauf, die sie später auch beim Bleichen auf der Wäsche erblickte. Unheimlich hatte das Totenkäferchen, die Totenuhr, sein Klopfen des Abends in der Holzbekleidung der Stube hören lassen. Auch hatte der Hofhund geheult, und das Käuzchen hatte aus dem großen Lindenbaume des Nachts so schaurig sein »Komm mit« erschallen lassen. Wie sehr aber hatte sie sich in jener Nacht erschrocken, als sie bei dem sterbenden Kinde gewacht hatte! Röchelnd ging der Atem in der kleinen Brust, und dazu war unter dem Bette ein leises Rollen deutlich zu vernehmen, als wenn ein Zwirnröllchen von Kinderhand hinund hergezogen würde. Es verstummte plötzlich, und da war die Seele des Kleinen von den Engeln in den Himmel getragen worden.
Die alte Schlenkhoffsche aber hatte den Tod ihres seligen Mannes auch vorher gewusst. Die Obstbäume hatten im Herbst noch einmal geblüht. Als sie eines Tages die Strümpfe ihres Mannes stopfte, bekam sie plötzlich Nasenbluten und drei Tropfen fielen auf den Strumpf, an dem sie gerade arbeitete. Auch hatte sie allerlei bedeutungsvolle Träume gehabt. Sie sah im Traum, wie das Haus brannte, beim Wäscheeausspülen war ihr ein Taschentuch ihres Mannes fortgespült worden. Auch die Träume von den ausgefallenen Zähnen und den schönen, saftigen Birnen kündeten einen Todesfall an. Tante Antrin aber wusste, dass bald wieder ein Toter im Hause folgen würde; denn das tote Kind hatte weiche Bäckchen gehabt, und beim Heraustragen waren die Füße desselben dem Hause zugekehrt. So redeten die beiden Frauen hinter der Hecke von der »Vorbedrifte«, und es, überlief die jugendlichen Lauscher dabei eine Gänsehaut nach der anderen.
Es schien bald so, als wenn Tante Antrin Recht haben sollte; denn wirklich starb bald ein alter Onkel im Hause. Das Seltsamste war aber, dass dieses Mal der Bauer selber, der doch nicht an die »Vorbedrifte« glaubte, ein Totenzeichen mit eigenen Ohren gehört hatte. Als er eines Abends spät nach Hause kam, wollte er niemand wecken und wollte durch das Fenster des Pferdestalles hineinklettern, um von dort in das Haus zu gelangen. In den alten westfälischen Bauernhäusern lagen bekanntlich Stall und Wohnung unter einem Dache. In diesem Augenblicke hörte er ganz deutlich eine Säge auf- und abgehen durch ein Brett. Er stutzte. Sollte er sich getäuscht haben? Er lauschte von neuem hin. Nein, deutlich war es zu hören, auf und ab ging knirschend die Säge. Täuschung war nicht möglich. Da musste ja jemand sterben. Also gab es doch eine »Vorbedrifte«. Als unerschrockener und von Aberglauben freier Mann ging er der Sache auf den Grund. Da zeigte sich dann, dass ein Pferd mit dem Halfter hinter einem abgebrochenen Raufenstab hängen geblieben war und sich nun vergeblich bemühte, den Riemen davon loszumachen. Daher rührte das sägende Geräusch. Aber war es nun Zufall oder »Vorbedrifte«, dass wirklich vier Wochen später der alte Onkel starb, und dass vor dem Pferdestall nach alter Hofessitte der Schreiner die Bretter zum Sarge zuschnitt? Der Bauer behauptete das erstere; Tante Antrin wurde in ihrem Aberglauben aber noch mehr bestärkt. Der Name Schlenkhoff ist in Wattenscheid auch heute noch mehrfach vertreten.
Literaturnachweis
- Leiermann, 1936, 164-166
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Dieser Text wurde folgendem Buch von Dirk Sondermann entnommen:
Essen: Verlag Pomp, 2004
ISBN 3-89355-248-0.
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