Die Speichenhexe von Breckerfeld
Aus Sagenhaftes Ruhrgebiet
Im Dämmerlicht eines Herbsttages fuhr ein Bauer von Breckerfeld mit seinem Fuhrwerk über den Wengeberg. Feucht wehten Nebelschleier über die Felder. Die Bäume neben dem Weg standen wie graue Riesen und rührten sich nicht. Hurtig trabte das Pferd den Berg hinan. Im Tal zog sich der Nebel dichter zusammen, die Schatten dazwischen vertieften sich. Dem Bauern Melchior war nicht wohl auf seinem Wagen. Zu oft hatten die Leute von Geistern erzählt. Die hier tanzten, von Zaubereien und Teufelskram.
Plötzlich zuckte Melchior zusammen. War da nicht ein Stöhnen gewesen in der Wiese, ein Ächzen und Wimmern? Er trieb das Pferd an. Schneller! Aber wieder drang es über die Wiese, als klage jemand in großer Qual. Wenn nun ein hilfloser Mensch da liegt? Der Bauer fasste sich ein Herz. »Brrr, Brauner, halt an! Vielleicht muss ich helfen.« Er sprang vom Sitzbrett. Unter seinen Schritten knistere das Gras. »Aaaach, Hilfe! Hierher!«, stöhnte die raue Stimme. Mit rasendem Herzen und weit offenen Augen wagte der Mann sich vor. Da! Wo der Wald begann, zwischen den grauen Riesen, ragte ein Kopf aus dem Busch; wirr stand das Haar um ein gruseliges Hexengesicht. Gelbe Zähne hingen aus dem Mund; schief bog sich die Nase zwischen den Falten. Dicht floss der Nebel über die Gestalt. Sie streckte plötzlich die Arme hoch, spreizte die grässlichen Hände und rief: »So hilf mir doch Melchior! Ich stecke mit einem Bein in einer Astgabel fest und komme nicht los. Ach, hilf mir doch!«
Bauer Melchior stand starr vor diesem Schreckensbild. Wie konnte sie seinen Namen wissen? »Dir kann ich nicht helfen«, presste er mühsam hervor. »Hol' die Axt von deinem Wagen«, rief das Hexengesicht, »mit der Axt schlag mir das festgeklemmte Bein ab! Schlag es ab, löse mich, löse mich!«
Das Entsetzen kroch wie tausend Würmer durch Melchiors Körper. Plötzlich hörte er sein Pferd schnauben und mit der ganzen Kraft seines Schreckens flüchtete er zurück. Weg aus der Wiese, fort von dem Wald, hin zu seinem guten alten Braunen! Hinter ihm her kreischte das Hexenweib, zeterte, zeriss die Luft. »Das sollst du büßen! Ich werde mich rächen, Menschengesindel! Bin ich erst los von dieser Stelle, verfluch' ich euch bis in die Hölle!« Noch drei Tage und Nächte wollen Fuhrleute und Wanderburschen das fürchterliche Gezeter gehört haben. Lange Zeit machten alle Breckerfelder einen großen Bogen um die Stelle; aber die Fuhrleute mussten mit ihren Wagen doch wieder dort vorbei. Und bald merkten sie auch, wie die Hexe sich rächte: Immer wieder geschah es, dass plötzlich ein Fuhrwerk stecken blieb auf dem Wegstück neben der Wiese. So sehr sich auch Bauer und Pferd mühten, der Wagen hing fest, war festgehext. Manch einer ließ den Wagen stehen nun lief zu Fuß nach Hause. Manch einem verregnete das Korn in den Säcken auf dem Wagen. War da nicht ein böses Kichern hinter den Bäumen? Knackten nicht Zweige im Gebüsch? Auch Melchiors Wagen stak eines Tages fest. Hell schien die Sonne. Da ist die Angst nur ein winziger Punkt. Und ehe er anfing, sich umsonst abzumühen, kam ihm eine Idee. Er erinnerte sich an die Worte der Hexe: »Hol die Axt von deinem Wagen, schlag mir das festgeklemmte Bein ab, schlag es ab!« Hätte er die Hexe damit lösen können? Er wollte jetzt versuchen, den Wagen damit zu lösen. Da war kein Hexenbein, aber die Holzspeichen seiner Räder. Er packte die Axt. Weit holt er aus und schlug gegen eine Speiche. »Du hast mich festgesetzt, zerschlag ich dir die Speiche jetzt«, rief er.
Krachend splittere sie entzwei und im gleichen Augenblick zog der Braune an. Der Wagen war frei. Munter sprang Melchior auf seinen Sitz und griff die Zügel. Weit hinten im Wald hörte er wütendes Kreischen. Abends im Wirtshaus erzählte Melchior, wie er den Hexenbann gelöst hatte. »Lernt den Spruch gut«, riet er seinen Zuhörern. »Du hast mich festgesetzt, zerschlag ich dir die Speiche jetzt!« Wer Melchiors Rat befolgte und eine Speiche an seinem Wagen zerschlagen konnte, der brauchte den Weg von nun an nicht mehr fürchten.
Nicht immer hat es so glatte, asphaltierte Straßen wie heute gegeben. Die meisten Straßen von damals sahen wie unsere Feldwege heute aus. Nach Regen oder Schnee weichten sie schlammig auf und die Fuhrwerke mit ihren schmalen Rädern gruben tiefe Furchen hinein. Da passierte es leicht, dass jemand mit seinem Wagen stecken blieb und gerne suchte man die Schuld bei übernatürlichen Wesen.
Anmerkungen
Der Wengeberg liegt an der gleichnamigen Straße in Breckerfeld und ist der höchste Berg im Ennepe-Ruhr-Kreis.
Wengeberg (WGS 84: 51.248512° 7.465854°)
Literaturnachweis
- Renate Schmidt-V., Gustav-Adolf Schmidt, Sagen und Geschichten aus dem Ennepe-Ruhr-Kreis, 2. Aufl. Schwelm 2001, S. 100-102
Hier finden Sie: Wengenberg (51.248512° Breite, 7.465854° Länge)
Diesen Ort mit weiteren Geodiensten anzeigen. Weitere Sagen aus Breckerfeld.
Der Text ist urheberrechtlich geschützt. Nähere Informationen: siehe Impressum.