Die Seherin von Haus Kemnade

Aus Sagenhaftes Ruhrgebiet

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Haus Kemnade

(...) Mitte des 16. Jahrhunderts wurde der Familie von der Recke ein Stammhalter geboren, der den Namen Wennemar erhielt. Als sich ihm bald auch eine Schwester Ursula hinzugesellte, schien das Glück derer von der Recke im Haus Kemnade kein Ende nehmen zu wollen. Wie man hörte, war unter den Gästen, die damals den glücklichen Eltern zur Geburt des kleinen Wennemar gratulierten, auch eine alte Frau, der man die Gabe einer Seherin nachsagte. Sie hatte ein kluges Gesicht, trug über dem Haar ein dunkles Kopftuch und musste sich beim Gehen auf einen Stock stützen. Zu den strahlenden Eltern sagte die alte Frau: »Das Glück ist ein flüchtig Gut.« Mit einem Blick auf den neugeborenen Stammhalter fuhr sie fort:« Folget nicht den Trieben, übet euch im Lieben!« Als die kleine Ursula geboren wurde, war die Seherin wieder unter den Gratulanten und sprach die Eltern in feierlichem Ton mit den gleichen Worten an. So recht passte dieser Ausspruch nicht zu dem freudigem Ereignis, das gefeiert werden sollte. Die Gäste und die Eltern erklärten sich diese seltsamen Redewendungen mit dem Alter der Frau. 31 In den folgenden Jahren des Glücks dachte niemand im Hause Kemnade an die Worte der Seherin, bis 1589 die alte Wasserburg niederbrannte. An eine Wieder­erstellung des großen Adelssitzes konnte wegen Geldmangel nicht gedacht werden. Nun erinnerten sich die Eltern wieder an die Seherin, die gesagt hatte: »Das Glück ist ein flüchtig Gut.« Nachdem man sich auf der Wasserburg wieder bescheiden ein­gerichtet hatte, traf neun Jahre später ein zweites Unheil ein, als spanische Soldaten Stiepel und Haus Kemande brandschatzten und verwüsteten. In einer wenig stan­desgemäßen Notunterkunft überstand die Familie aber auch diese schreckliche Zeit. Ein zweites Mal war Unglück über das Haus Kemnade hereingebrochen. Man erinnerte sich wieder an die Seherin, die bei der Geburt der kleinen Ursula ein zweites Mal die Vergänglichkeit des Glücks geweissagt hatte. Auf der Burg glaubte man schon, die alte Frau sei keine Seherin, sondern eine böse Fee gewesen, die alles Unglück heraufbeschworen hätte. In der Zwischenzeit war Sohn Wennemar zu einem ehrbaren, stattlichen jungen Mann herangewachsen. Große Sorge machte den Eltern aber die Entwicklung ihrer Tochter Ursula, die ein allzu lockeres Wesen zeigte. Sie wollten Strenge walten lassen und schickten ihre Tochter in ein abgeschiedenes Kloster, um sie auf den richtigen Weg zu bringen. Das Edelfräulein ertrug jedoch das ernste Klosterleben nicht. Bei der ersten Gelegenheit riss Ursula aus und ließ sich von einem Hausierer im Pferdewagen mitnehmen. Da Ursula bei ihm die Zuneigung und Liebe fand, die sie im Elternhaus vergeblich gesucht hatte, blieb sie bei ihm und heiratete ihn.

Über das Verlassen des Klosters und noch mehr über die unstandesgemäße Heirat hatten sich die Eltern so sehr erbost, dass Ursula enterbt wurde. Als sie schließlich vor Gram gestorben waren, wollte auch der eigene Bruder von ihr nichts mehr wissen. Die Mahnung der alten Seherin: »Übet euch im Lieben!« verstand er auch nicht. Etliche Jahre zog Ursula mit ihrem Mann in dem Gebiet zwischen Weser und Rhein umher. Kurz nach der Geburt des siebten Kindes verstarb ihr Mann, und Ursula stand als Witwe mit ihren Kindern allein. In Bochum fand sie eine Unterkunft und zog von dort über Stiepel ins Ruhrtal zu ihrem Bruder. Doch der herzlose Bruder gewährte ihr die erbetene Unterstützung nicht und schickte sie mit ihren Kindern wieder fort. Ursula erhielt schließlich juristischen Beistand durch den Bochumer Drosten, der damals seinen Sitz in Herne auf dem Wasserschloss Strünkede hatte. Wennemar, stolzer Herr aus Haus Kemnade, wurde aufgefordert, seiner verarmten Schwester Unterkunft und Verpflegung zu gewähren. Auf lieblose Art verweigerte er ihr dies. Darauf ließ der Bochumer Amtsrichter zwei Stiepeler Höfe besetzen und bestimmte deren Abgaben für den Unterhalt der Witwe. Doch Wennemar schaltete die Advokaten des höchsten Kammergerichts ein und ließ so das Unterstützungsbegehren zurückweisen. Sein hartherziges Wesen hatte aber auch ihm ein glückloses Leben beschert. Kinderlos starb er als letzter der Familie von der Recke zu Kemnade. So fand die Weissagung der alten Seherin über das flüchtige Glück für die Adelsfamilie auf Haus Kemnade ihre traurige Erfüllung.

Anmerkungen

Das Wasserschloss Strünkede liegt in Herne-Baukau am Karl-Brandt Weg 5. Dort ist heute das Emschertal-Museum (Öffnungszeiten: dienstags-sonntags 14-17 Uhr) untergebracht. Ursula war im Augustinerinnenkloster Gräfrath, welches 1806 aufgehoben wurde und heute das Deutsche Klingenmuseum in Solingen-Gräfrath am Klosterhof 4 birgt. Stiepel ist ein Stadtteil von Bochum. Ein Drost ist ein Amtmann. Das (Reichs-) Kammergericht (1495-1806), das oberste

Gericht des Reiches, hatte die Aufgabe ein geregeltes Streitverfahren anstelle von Fehden, Gewalt und Krieg zu setzen.

Nur wenige Meter vom Ufer der Ruhr entfernt, umrahmt von hohen Bäumen und von einem Wassergraben umgeben, liegt Haus Kemnade An der Kemnade 10 auf Hattinger Gebiet. Der Name »Kemnade«, sprachlich abgewandelt aus Kemenate, hat seinen Ursprung in dem lateinischen »domus caminata«, das ein steinernes Kaminhaus bezeichnete, dass Zimmer mit eigenen Feuerstellen besaß. Die Geschichte des Hauses reicht bis in das 14. Jahrhundert zurück.

Wie fast alle westfälischen Wasserburgen war auch Haus Kemnade Lehnsadelssitz. Seine Inhaber waren die Gerichts- und Patronatsherren von Dücker, von Romberg, von der Recke und von Syberg. Stiepel und – nachweislich sei dem 14. Jahrhundert

– auch Haus Kemnade stand unter der Lehnshoheit der Grafen zur Lippe. Damals lag das Haus – von Stiepel aus gesehen – noch vor der Ruhr. Erst nach einem Hochwasser im Jahre 1486 nahm die Ruhr den heutigen nördlichen Verlauf und trennte Haus Kemnade von Stiepel. Für lange Zeit stellte eine Fähre die einzige Verbindung zwischen den Stiepeler Bürgern und ihrer Burg her. Erst im Jahre 1928 wurde die Kemnader Brücke errichtet. Mit der Fähre konnte man jedoch auch weiterhin »übersetzen«. Von 1758-1960 wurde der Fährbetrieb bei Diergardt auf­rechterhalten; der Straßenname An der Alten Fähre in Bochum-Stiepel erinnert heute daran. Der letzte Fährmann Gustav Diergardt, genannt »Iserne Gustav«, starb 1983. In der Folgezeit betreiben Diergardts dortselbst eine ausflugswerte Garten­gaststätte An der Alten Fähre in Bochum-Stiepel mit herrlichem Blick auf die Ruhr und Burg Blankenstein. Heute beherbergt die Wasserburg auch die Musikinstrumentensammlung Grumbt (Öffnungszeiten: 1.5. bis 31.10.: Dienstag-Sonntag 12 bis 18 Uhr, 1.11. bis 30.4.: 11 bis 17 Uhr). Östlich der Oberburg steht das Bauernhausmuseum (Öffnungszeiten: 1.5. bis 31.10.: Dienstag-Sonntag 12 bis 18 Uhr). Burg Kemnade beherbergt in ihren historischen Räumen ein empfehlenswertes Restaurant. Der Sage nach hat Gräfin Imma, die Gründerin der alten Stiepeler Dorfkirche (siehe Sagen 6, 13, 44f.), Haus Kemnade schon um das Jahr 1000 erbauen lassen.

Haus Kemnade (WGS 84: 51.4075° 7.249533°)

Schloss Strünkede (WGS 84: 51.551379° 7.211097°)

An der Alten Fähre (WGS 84: 51.414819° 7.233982°)

Literaturnachweis

  • Heinrichs, 91-94; vgl. Weiß, August: Ursula von Kemnade, in: Bochum. Ein Heimatbuch Bd. 3 Bochum 1930; Brand, Christian: Vom abenteuer­lichen Leben der Ursula von Kemnade, in: Ruhrländer Heimatkalender 1952, Essen 1952, S. 108-111


Hier finden Sie: Haus Kemnade (51.4075° Breite, 7.249533° Länge)

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Dieser Text wurde folgendem Buch von Dirk Sondermann entnommen:

Hattinger Sagenbuch.
Essen: Verlag Pomp, 2007
ISBN 978-3893552542.



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