Die Sage von der Berne
Aus Sagenhaftes Ruhrgebiet
Schon lange bevor die Stadt Essen erbaut wurde, und ehe noch das erste Haus in unsere Gegend stand, flossen außer Ruhr und Emscher die beiden kleinen Flüsse Berne und Limbecke durch das Land. Sie hatten spiegelklares Wasser, das bei Tage so Blank wie Sonnengold und in den Nächten geheimnisvoll wie das Silber des Mondes aussah. Das gefiel den Nixen, die im Wasser wohnen und die Stille suchen, wo keine Menschen sind, und weil die Berne durch den Bernewald verborgen war, erwählten sie diese zu ihrem Aufenthalt.
Niemals hat sie ein Mensch bei hellichtem Tage dort gesehen. Wer aber in sternenklaren Nächten ganz vorsichtig und behutsam von ferne stand, wurde sie gewahr, wie sie aus dem Wasser stiegen, das an ihren grünverschleierten Leibern wie glitzernde Perlen niedertropfte. Vorsichtig spähten sie nach allen Seiten, ehe sie aus den Mondscheinwiesen ihren Tanz begannen. Das war ein Wiegen und Singen so schön und süß und wundersam, als ob die ganze Welt verzaubert sei.
Auf einem bemoosten Stein, der mitten aus dem Wasser emporragte, saß die Nixenkönigin mit einer funkelnden Krone angetan und sah den Spielen ihres Volkes zu. Ihre Gestalt war wie Alabaster fein und in fließendes Mondscheinwiese gehüllt, das wie ein Märchengewand an ihrem Körper niederwallte und zu beiden Seiten des Flusses die grünen Ufer berührte, als ob es sie für immer fassen und halten wolle. In der Hand hielt sie eine riesige Schwertlilie als Zepter, und ein lieblicher Kranz von Wasserrosen hatte sich um ihren strohweißen Hals gelegt. An ihrem Fingerring trug sie einen großen seltsamen nie gesehenen schwarzen Stein, der ihr indessen kein Glück bedeuten sollte.
Bei seinem Einzug in das Land hatte der Zwergenkönig ihn ihr zum Angebinde übersandt, und seitdem sie sich damit zu schmücken pflegte, mußte sie in den Nachtzeiten von ihrem Throne aus über ihr tanzendes Volk hinweg sorgenvoll in die Sterne sehen, als drohe ihr Unheil, oder als gälte es, mit den Augen eine neue Heimat zu suchen. Hatte sie das ständige Pochen tief unten im Berge gehört, oder war es der alte Zwist zwischen Nixe und Zwerg, der sie besorgt machte?
Als sie zur Mitternachtstunde wieder in ihrer Pracht dasaß und sann, wurde ihr eine Gesandtschaft der Zwerge gemeldet. Sie waren gekommen, um das Volk der Nixen zum tausendsten Geburtstag des Zwergenkönigs einzuladen, der in goldenen und silbernen Sälen und in Kammern von schwarzen Edelsteinen tief unten in der Erde gefeiert werden sollte. Sie hatten die klügsten und vornehmsten Zwergmännlein ausgesucht, die Festbotschaft zu überbringen, und ihnen aufgetragen, auf dem Wege einander immer wieder die Worte vorzusprechen, die sie sagen sollten.
Als sie dann geblendet vom Glanz des Nixenlandes vor der schönen Königin standen und nun, da es galt, die rechten Worte doch nicht finden konnten und die Königin bei ihrem Anblick ihrer eigenen stillen Not gedachte und ein wenig unmutig zur Seite schaute, und als unterdessen die übermütigen Nixen von der Waldwiese her hellauf zu lachen begannen, sahen die Zwerge es als bösen Spott an und kehrten, ohne ihre Botschaft vollführt zu haben, traurig zu ihrem Volk zurück.
Kaum hatten sie berichtet, was ihnen widerfahren war, als ein Zorngeschrei losbrach, wie es noch nie erlebt wurde, so gewaltig, dass es die Erde weithin erschütterte. Die Nixenkönigin auf ihrem Thron wurde blasser als der Mond. Nun war der Friede ihres Reiches dahin, und das Unheil musste sich erfüllen. Das Pochen unter der Erde, das vorher nur dann und wann wie ein vereinzelter Hammerschlag geklungen hatte, schwoll zu einer Lärmwelle an, die Tag und Nacht nicht mehr nachlassen wollte. Das klopfte, bohrte, dröhnte, schürfte, stöhnte, rollte und raste ohne Unterlaß, als ob der Untergang der Welt gekommen sei.
Erschrocken hielten die Nixen in ihren Tänzen inne und flohen in den Fluß zurück, sich in seinen Fluten zu verbergen. Ihre Königin hüllte sich in das Dunkel der Nacht, senkte den Kopf tief in den Schoß und glitt lautlos von ihrem Königssitz auf den Grund des Wassers hinab. Kaum daß sie ihn berührte, erkannte sie, daß für sie und ihr Volk auch hier keines Bleibens mehr war. Die Wassertropfen, die sich bisher wie Kinder an ihren Leib geschmiegt, schienen sie nun zu fliehen. Nicht daß sie ihren natürlichen Lauf dem Meere zu verfolgten, sie drängten dem Land der Zwerge zu und sickerten langsam und heimlich durch Erdreich und Gestein in die Tiefe hinab. Die Zwerge hatten sich aus Rache ihnen verbündet, das Reich der schwarzen Steine zu gewaltigen Stollen und Kammern ausgehöhlt und dadurch dem Wasser zugleich einen neuen Weg bereitet.
Als die Nixenkönigin gewahrte, wie der Wasserspiegel immer tiefer sank, und als sie aus schwerer Not die Klagen ihres Volkes hörte, das nicht mehr singen und tanzen mochte und in Heimweh nach Freude und Glück durch die Nächte hinweinte, beschloß sie bei sich, die geliebte alte Heimat zu verlassen und für sich und ihr Volk weit in der Fremde irgendwo ein neues Wasser zu suchen. Wann sie fortgezogen sind, weiß niemand.
Das Zwergenvolk blieb noch lange nachher am Ort und arbeitete fleißig in der Tiefe, um die schwarzen Schätze des Landes zu heben, bis es auch vor dem lauten Gebaren der Menschen fliehen und ihnen den Reichtum der Erde überlassen mußte.
Dem Bernefluß war gleichfalls kein dauerndes Glück beschieden. Das Bündnis mit den Zwergen machte seinem sorglosen Dasein ein Ende. Zu spät erkannte er, daß seine ursprüngliche und überschäumende Kraft gebrochen war. Was ihm an Wasser noch verblieb, wurde in den Dienst der Räder und Maschinen gezwungen, die von den Menschen hergerufen waren, und die sich von dem schwarzen Gestein ernährten. Selbst die Fische flohen aus den getrübten Fluten, und nie wieder hat an seinen Ufern ein Zaubervolk gewohnt.
Anmerkung
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als Essen noch ein kleines, aber schon. aufstrebendes Städtchen von 50. 000 Einwohnern war, floss die Ruhr noch weit außerhalb der Stadtgrenzen. Folglich findet sich auch in »Ritter's Geographisch - statistischem Lexikon« von 1874 kein Hinweis auf die Ruhr; vielmehr heißt es dort-. »Essen, Stadt an der Berne«. Die Berne war ein Bach, der die Stadt von Süden nach Norden durchzog. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde die Berne als Unterstraßenkanal vermauert, in dem bis heute Abwässer fließen. Nur noch Straßennamen wie Bernestraße, Am Bernewäldchen, Bachstraße oder Teichstraße erinnern an den einst Trinkwasser spendenden und fischreichen Bach. Kurioserweise ist die Berne in einem verbreiteten französischen Wörterbuch zur Geographie aus dem Jahre 1977 immer noch erwähnt: »Essen . . . Stadt an der Berne . . . im Herzen des Kohlebeckens«. (Schulze)
Die Sage weist deutliche Parallelen zur Sage 40 auf. Alabaster ist ein Mineral (Gipsspat) und hat eine gewisse Ähnlichkeit mit Marmor.
Bernestrasse, Essen (WGS 84: 51.45378° 7.017174°) Am Bernewäldchen, Essen (WGS 84: 51.445345° 7.021087°)
Literaturnachweis
- Vos, Weinand, 10-12 (nach P. Groß und W. Voth, Aus dem alten Essen, Essen 1926); in Am. verwendete u. weiterführende Lit. : Schulze, 1990, 7
Hier finden Sie: Bernestrasse, Essen (51.45378° Breite, 7.017174° Länge)
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Dieser Text wurde folgendem Buch von Dirk Sondermann entnommen:
Bottrop: Henselowsky Boschmann Verlag, 2006
ISBN 3-922750-66-4.
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