Die Kanzel
Aus Sagenhaftes Ruhrgebiet
Der Felsenvorsprung zwischen dem Kattenturm und der Stadt Kettwig, welchen die jetzigen Bewohner der Gegend »Kanzel« nennen, hat seine Form und Gestalt sowohl durch die Zeit wie durch Menschenhand gegen früher gänzlich verändert. Als an seinem Fuße die Römer und Katten ihre Kräfte maßen, war er ein aus dem Walde sich viel weiter in das Tal hinausschiebender Fels, oben weit hervorspringend, der einige Ähnlichkeit mit einem gewaltigen Haupte besaß und aus diesem Grunde von den Urbewohnern für das versteinerte Haupt eines Riesen gehalten wurde, der nach der Sage in der Schlacht gegen die Götter getötet war. Sie nannten die Stelle »am Bildstein« und errichteten darauf ihren von den herüberhängenden Ästen heiliger Eichen beschatteten Altar. Hier feierten einst, als Ostara, der Erdgöttin Tochter, die Keime schwellen und sprossen ließ und schon die ersten Blümchen fröhlich ihre Köpfchen zur leuchtenden Sonne emporhoben, die in jener Gegend angesiedelten Katten ihr Frühlingsfest, das – während nach vollendetem Opfer die Männer am sonnigen Bergabhange schmausten und zechten, die Frauen wieder Herd und Vieh versorgten, die Kinder schliefen oder spielten, und nur die eben erst vermählten Paare noch an der heiligen Stätte weilten – die unbemerkt vorgedrungenen Römer so grausig unterbrachen. Plötzlich aus dem nahen Gebüsch hervorbrechend, hatten sie bald die waffenlosen Jünglinge trotz tapferster Gegenwehr niedergeworfen und samt ihren jungen Frauen gebunden und dann, den Abhang hinunterstürmend, dank ihrer Übermacht die von ihrem Gelage zu den Waffen geeilten Katten – die noch rechtzeitig ihre Weiber, Kinder und Herden in den Schluchten des Waldes, dem heutigen »Sonnenschein«, geborgen – sowohl unterhalb des Berges, wie an der seitdem des vielen daselbst geflossenen Blutes halber »am Mörder« genannten Stelle, an der sich das Kattenheer nochmals gewehrt, zum Weichen gebracht. Dem Feinde zu folgen aber wagten sie nicht und schlugen darum in der Nähe ihr Lager auf. In dieses wurden auch die an der Opferstätte gefangengenommenen Paare geleitet. Als dieselben dem Feldhauptmann Scävola zur Musterung vorgeführt waren, machte die herrliche, wahrhaft königliche Gestalt Thoras, der goldlockigen Tochter des Ripuarierhäuptlings Eckbert, einen solchen Eindruck auf den Römer, daß er sie länger als die anderen bei sich behielt und, immer mehr von ihren Reizen bezaubert, sie schließlich bat, seine Gattin zu werden. Doch flammenden Auges wies die Holde seinen Antrag zurück. »Lieber will ich den Tod als die Knechtschaft und lieber Fesseln als selbst
nur deine Freundschaft ertragen!« lautete die stolze Antwort, die aber die Glut des Feldherrn keineswegs dämpfte, sondern ihm die Zürnende nur noch begehrenswerter erscheinen ließ. Inzwischen hatten die Katten, unterstützt von den auf ihren Hilferuf schleunigst herbeigeeilten Nachbarsstämmen, ausgiebige Vorkehrungen getroffen, um die Gefangenen zu befreien und die verlorenen Sitze wieder zurückzugewinnen. Während ihres Herannahens war Thora, die sich auf Befehl Scävolas (der durch Güte am ehesten sein Ziel zu erreichen hoffte) mit ihrer Dienerin unter der Obhut einiger Kriegsknechte in der Nähe des Römerlagers ergehen sollte, glücklich auf dem erstrebten Gipfel des Bildsteines angekommen, der eine freie Aussicht über die ganze Ruhrgegend bot und deshalb auch alle Einzelheiten des neuen Kampfes am besten überblicken ließ. Ihre ganze Seele lag in ihren Augen. Gespannt verfolgte sie in heißer Sehnsucht nach Freiheit jede Bewegung der immer stürmischer aufeinander stoßenden Gegner; da – da sah sie die Ihren umringt und hörte das Siegesgeschrei der Römer. Der letzte Hoffnungsschimmer erlosch, und nicht ahnend die Pläne ihrer Freunde, die den verhaßten Friedensstörer nicht nur besiegen, sondern in einen Hinterhalt locken und dann gänzlich vernichten wollten, sprang sie, der Göttermutter Freia sich weihend, hinab in die jähe Tiefe. Unentstellt zwar blieb ihr schöner Leib, den von der »freundlichen« Göttin gesandte geflügelte Botinnen sanft heruntertrugen, doch – die Seele war ihm entflohen: entrückt der Erde Luft und Leid, lag sie tot am Ufer des Flusses. Auf dem Schlachtfelde aber hatte sich mittlerweile das Bild völlig geändert. Ein zweites, bis dahin aller Augen verborgenes deutsches Heer hatte sich plötzlich mit schrecklichem Schlachtruf auf die vermeintlichen Sieger geworfen und wutentbrannt sie sämtlich jämmerlich erschlagen; nur Thoras kleine Schutzwache, die ohne Säumen an den Rhein geflohen, war dem Blutbad entgangen. In all den Kämpfen hatte sich Arnulf, des Kattenhäuptlings Sigurd kraftstrotzender Sohn, der sich und seine Gefährten der Fesseln entledigt, das römische Lager aber ohne die nicht zu findende Thora hatte verlassen müssen, ganz besonders hervorgetan; galten sie doch auch der Befreiung Thoras, seines noch immer in der Gefangenschaft schmachtenden Weibes, das er freilich nur als Leiche wieder finden sollte! Und wie er, hatte fast jeder der Stammesgenossen mindestens ein teures Haupt in dem blutigen Streite verloren, so daß eine reine Siegesfreude nicht aufkommen wollte und konnte. Klagend und schluchzend vielmehr trugen die Katten, nachdem sie die Leichen der Erschlagenen gesondert und die Rosse der Feinde getötet, die ganze Kriegsbeute, sogar die wertvollen goldenen und silbernen Gefäße und Geräte der vornehmen Römer, zusammen und übergaben sie dem Feuer, um alles, wirklich alles (wie sie bei glücklichem Ausgange der Schlacht vorher gelobt) den Göttern zu opfern. Dann setzten sie über den Strom auf die Insel, welche, einst von der Ruhr in tollem Wirbel aus zusammengeschleuderten Bäumen, Erdmassen und Trümmern gebildet und jetzt, den Wasserspiegel ziemlich hoch überragend, ein schönes, sicheres Eiland geworden war. Dort versenkten sie tief die vom Feuer nicht verzehrten kostbaren Stücke und schichteten darüber einen Holzstoß auf, auf dem sie rings um Thoras prächtig geschmückte und mit reichen Geschenken für die Götter umgebene Leiche in Reihen ihre gefallenen Helden betteten, zu eines jeden Füßen zur Sühne den Leib eines erschlagenen Feindes legend. Als endlich die Priesterinnen ihres Amtes gewaltet hatten und die Flammen des entzündeten Brandmals erloschen waren, bargen und begruben sie in Urnen die Asche, türmten darüber einen ansehnlichen Hügel und nannten die Stätte nunmehr »die Katteninsel«, Thoras und der Helden wegen, die daselbst bestattet waren. Die Erinnerung daran ist dem Volke bis zum heutigen Tage geblieben, wenn auch die Insel, da die über bedeutend weniger Wasser verfügende Ruhr den Weg an der Ostseite der Ruinen wählte, längst mit dem anderen Teile des früheren Strombetts zu festem Gelände geworden ist; denn »Kattenburg« oder »Kettelburg« hieß das Schloß, das Jahrhunderte später Theophano auf jenem Hügel errichtet, und »Kattenturm« heißt noch der Rest,
der von ihm sich erhalten. Und gleich ihm ist auch der einstige »Bildstein«, auf dem der Katten Opferhain gelegen, ihr schwerer Kampf begonnen und Thora, die »Kattenbraut«, ihr Dasein geendet, noch immer das Ziel vieler Wanderer, die trotz des neuen Namens »Die Kanzel« der alten Zeiten gedenken.
Anmerkungen
Die Kanzel erreichen Sie, wenn Sie an der Straße Am Bilstein 34 ungefähr 240 Meter in den Wald hineingehen. Rechter Hand befindet sich dort eine Aussichtsstelle mit Bank: »Die Kanzel«. Siehe auch Im Sonnenschein. Zum »Kattenturm« siehe vorhergehende Sage. Ostara ist die germanische Göttin des Frühlings und der Morgenröte. Von Ostara wurde der Begriff »Ostern« abgeleitet, wie auch Osterhase und Ostereier dem germanischen Fruchtbarkeitskult entstammen. Die Katten waren ein an der oberen und mittleren Ruhr siedelnder germanischer Volksstamm, der zur Kultgemeinschaft der Tanfana (Göttin der Fülle) gehörte. Germanicus, der Adoptivsohn des Kaisers Tiberius führte in den Jahren 15–17 n. Chr. wegen der römischen Niederlage in der Varusschlacht (siehe Sagen 41, 64) im Jahre 9 n. Chr., einen ergebnislosen Rachefeldzug gegen Cherusker, Katten, Marser und andere germanische Stämme. In diesem Zusammenhang ist das oben geschilderte Geschehen, wenn es denn historisch ist, wohl zu stellen. Freia (Freyja) war die Gemahlin Odins und galt als germanische Göttin der Ehe und Fruchtbarkeit.
Die Kanzel (WGS 84: 51.365977° 6.955345°)
Kattenturm (WGS 84: 51.368583° 6.960767°)
Literaturnachweis
- Bahlmann, 1922, 173–178 (nach F. Norden, Der Kattenturm, Erzählung aus alter Zeit, Kettwig, F. Flothmann, 1885)
Hier finden Sie: Die Kanzel (51.365977° Breite, 6.955345° Länge)
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Dieser Text wurde folgendem Buch von Dirk Sondermann entnommen:
Bottrop: Henselowsky Boschmann Verlag, 2005
ISBN 3-922750-60-5.
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