Die Fürstäbtissin und die Waisen
Aus Sagenhaftes Ruhrgebiet
- »Das ansehnliche Schloß ... ist jetzt vielleicht das schönste Waisenhaus, welches Deutschland besitzt ...« Schücking-Freiligrath
Fürstäbtissin Franziska Christine war eine reiche Frau. Die Einkünfte aus ihren zahlreichen Gütern und Ländereien hatten sie unabhängig und mächtig gemacht. Ihre Aufgaben als Fürstäbtissin von Stadt und Stift Essen erfüllte sie dennoch aus tiefer religiöser Überzeugung und mit viel Pflchtgefühl. Allerdings fand sie immer noch Zeit genug, Reisen zu ihren Gütern zu unternehmen, die Höfe zu inspizieren, Anordnungen zu treffen und Bedienstete zu loben oder zu tadeln. Kurz: sie ließ sich die Zügel nicht aus der Hand nehmen und wußte, durch ihre wiederholte Anwesenheit jedwedem Schlendrian vorzubeugen. Eines Abends kehrte sie mit ihrem Gefolge, zu dem einige Geistliche und ihr Hofmohr gehörten, von einer solchen Inspektionsreise zurück. Als sie gerade die Stiftsgebäude betreten wollte, sah sie vor dem Tore ein kleines Kind sitzen, verhärmt und elend, das sein mageres Ärmchen mit einer bittenden Geste ausstreckte. Hastig entnahm Franziska Christine ihrem Geldbeutel einige kleine Silbermünzen, die damals in Essen »Fettmännchen« hießen, und warf sie dem Kinde hin. Ihr schwarzhäutiger Diener, der Hofmohr, streichelte dem Kind mitleidig den Kopf, mußte sich aber schon wieder abwenden, um seiner Herrin zu folgen, die im Eilschritt das Kloster betrat, mit den Gedanken schon bei den vielfältigen Aufgaben, die sie noch vor der Schlafenszeit zu erledigen hatte. Nachdem sie allen Verpflichtungen nachgekommen und endlich in ihrer Stube zu Bett gegangen war, richtete sie ihren Blick auf das Kruzi?x an der Wand gegenüber und begann ihr Nachtgebet. Plötzlich aber stockte sie, denn sie meinte, ihren Augen kaum trauen zu können: Das Gesicht des gekreuzigten Jesus schien sich für einen kurzen Augenblick zu verändern und die Züge des kleinen Bettelkindes anzunehmen, dem sie am frühen Abend noch ein Almosen gegeben hatte. Dann war die Erscheinung wieder verschwunden. Franziska Christine rieb sich die Augen. Sollte dies ein Zeichen des Himmels gewesen sein? Und mit einem Mal verstand sie, daß ihr Verhalten dem Kind gegenüber nicht liebevoll, ja eher herzlos gewesen war. Denn mit einigen hingeworfenen Münzen kann man sich nicht von seiner Verpflichtung dem Nächsten gegenüber freikaufen. Ihr Hofmohr hatte sicherlich mehr Liebe und Zuneigung gezeigt, als er dem Kinde mitleidsvoll über den Kopf fuhr. Die für sie leicht entbehrlichen Münzen hatten nichts am Elend, am Leid, an der Hilflosigkeit des Kindes geändert. Am nächsten Tage ließ Franziska Christine eine Aufstellung ihres beträchtlichen Vermögens schreiben. Welch ein Reichtum war da zusammengekommen! Und wie viele Kinder lebten elternlos in Armut, gezwungen, durch Bettelei ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. So ordnete die Fürstäbtissin unverzüglich an, daß in Steele von ihrem Geld ein großzügiges Waisenhaus erbaut werden sollte, in dem elternlose Kinder nicht nur beköstigt und bekleidet, sondern auch unterrichtet werden sollten, damit sie eines Tages ohne die Hilfe anderer für sich sorgen konnten. So geschah es, und noch heute, nach mehr als 200 Jahren, besteht das Steeler Stiftswaisenhaus, trägt gleichsam der Baum, den die Fürstäbtissin gepflanzt hat, immer noch reiche Früchte.
Anmerkungen
Die Stiftung von Franziska-Christine, Fürstäbtissin von Essen und Thorn (1696–1776) wurde 1763 gegründet und besteht bis heute an der Steeler Str. 642. Das Bauwerk zählt zu den großen historischen Sehenswürdigkeiten Essens. Die spätbarocke Kapelle der Stiftung ist nach Anmeldung an der Pforte zu besichtigen. Zum Stift Essen siehe Sage 40.
Stiftung Franziska Christine (WGS 84: 51.450203° 7.072889°)
Literaturnachweis
- Schulze, 1990, 116–119
Hier finden Sie: Stiftung Franziska Christine (51.450203° Breite, 7.072889° Länge)
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Weitere Sagen aus Essen.
Dieser Text wurde folgendem Buch von Dirk Sondermann entnommen:
Bottrop: Henselowsky Boschmann Verlag, 2005
ISBN 3-922750-60-5.
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