Der ewige Student
Aus Sagenhaftes Ruhrgebiet
Die folgende sagen-hafte Geschichte wurde dem Herausgeber im Frühjahr 1982 im Kolping-Bildungswerk Coesfeld von einem ca. 27-jährigen Examenskandidaten mitgeteilt:
Vor allem in den Gebäuden für Geisteswissenschaften (GA, GB, GC) der Ruhr-Universität Bochum soll morgens, wenn die ersten Studenten, Wissenschaftler und Mitarbeiter ihre Fachbereiche betreten, hin und wieder eine Gestalt durch die Flure und Treppenhäuser huschen, die, kaum dass man sie bemerkt, den Blicken schon wieder entschwunden ist. Es ist der ewige Student, der angeblich schon seit Beginn der Lehrtätigkeit an dieser Hochschule, also seit Mitte der sechziger Jahre, hier studiert. Mehr als zehn Jahre schon schreibt er an seiner Doktorarbeit, die aber niemals vollendet werden kann, da er den Ehrgeiz hat, eine »perfekte Dissertation« abzuliefern und jede neue Fachveröffentlichung, die sein Thema berührt, in sein Werk einfließen lassen will. Seit Jahren aber wird stets, kurz bevor der ewige Student sein Werk vollendet zu haben glaubt, ein wissenschaftlicher Bericht veröffentlicht, den er noch unbedingt in seiner Doktorarbeit berücksichtigen will, so dass sein Forschungsabschluss immer wieder hinausgeschoben wird. Da dem ewigen Studenten über sein Werk das Geld ausgegangen ist und er täglich von morgens bis abends in den Bibliotheken sitzt und forscht, wurde ihm schon vor Jahren seine Wohnung gekündigt. Er übernachtet in Fachschaftsräumen, unverschlossenen Bürozimmern und in verborgenen Kellernischen. Seinen geringen persönlichen Besitz verbirgt er tagsüber irgendwo in einem Schließfach der Universität.
Und stets fürchtet der ewige Student, morgens von zu früh eintreffenden Angestellten, abends von den Putzfrauen oder vom Hausmeister entdeckt zu werden. Erst ab ca. 8.30 Uhr, wenn der Lehrbetrieb allmählich beginnt, fühlt er sich sicher, denn dann kann er nicht mehr auffallen.
Man sagt, der ewige Student habe sehr lange Haare, trage ungepflegte Kleidung sowie eine Nickelbrille, und es rieche in seiner Nähe ein wenig muffig; wirklich genau gesehen aber hat ihn wohl noch niemand.
Die Hochschule liegt an der Universitätsstr. 150.
Zwei, drei Personen sprachen mich nach der Lektüre dieser Sage mit folgenden Worten an: »Klar, den Ewigen Studenten kenne ich, das ist Hajo!«
Nun, vielleicht war es Hajo (Mulsow), der 1996 verstorbene »Altlinke« der 68er-Generation, der, wie man hört, in kein Schema passende, überall aneckende, kein Examen machende, kein festes Einkommen habende, die Grünen hassende, die Emanzen verachtende, die Marxisten-Leninisten verlachende, der Uni Bochum nahezu dreißig Jahre treu bleibende, zuletzt unheilbar kranke Ewige Student, von dem es in der Bochumer Studentenzeitung vom 15. April 1996 heißt: »Ein Überlebender ist tot. Hajo erinnert an jenen Billy the Kid, der seinem früheren Freund und späteren Mörder Pat Garrett auf dessen Bemerkung, dass man sich anpassen müsse, da sich die Zeiten geändert haben, die in einem solchen Fall einzig passende Antwort gab: Die Zeiten vielleicht, aber ich nicht.«
Aus Bochum ist mittlerweile eine weitere Universitätswandersage bekannt geworden:
»An der Ruhr-Universität finden gelegentlich öffentliche Vorträge statt, die auch von den Einwohnern Bochums gern besucht werden. Einmal geriet ein älterer Herr an einem Freitagabend auf der Suche nach dem Vortragssaal an eine Eisentür, die nicht zum gewünschten Hörsaal, sondern in die Versorgungsgänge führte. Die Tür fiel hinter ihm zu. Der Herr musste also das gesamte Wochenende in seinem Verlies zubringen. Am späten Montagmorgen schaute ein Assistent der Geisteswissenschaften aus seinem Fenster und sah, wie eine Hand aus dem Schacht ein Zeichen gab und kraftlos wieder zurückfiel. Der alte Herr soll ins Krankenhaus gekommen sein, sei aber gerettet worden.«
(Barbara Schlosser, 26.1.1993, bis 1970 Bibliothekarin an der Ruhr-Universität Bochum.)
Ruhr-Universität Bochum (WGS 84: 51.443017° 7.259517°)
Literaturnachweis
- Vgl. Brednich, 1993, 64f.; Schlosser, Barbara in: Brednich, 1996, 115f., 244
Hier finden Sie: Ruhr-Universität Bochum (51.443017° Breite, 7.259517° Länge)
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Dieser Text wurde folgendem Buch von Dirk Sondermann entnommen:
Verlag Pomp, 2004
ISBN 978-3893550678.
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