Der erlöste Geist
Aus Sagenhaftes Ruhrgebiet
Freitod galt in germanischer Zeit nicht als Vergehen. Diese Einstellung änderte sich mit dem Aufkommen der christlichen Lehre ins Gegenteil. Allen voran verurteilte der heilige Augustinus, einer der einflussreichsten Kirchenlehrer, der von 354 bis 430 lebte, den Freitod aufs Schärfste. Die katholische Kirche stellte den Freitod mit Mord (Selbstmord) gleich, also einer Todsünde. Es hieß: Der Mensch erhält sein Leben von Gott allein und aus diesem Grund hat auch nur Gott allein das Recht, den Todeszeitpunkt zu bestimmen.
Diese Einstellung spiegelte sich im Laufe der Zeit auch im juristischen Bereich, in der Volksmeinung, in den Volkssagen und im Aberglauben unserer Vorfahren wider.
Im abergläubischen Denken waren der Körper und der Besitz eines Selbstmörders gefürchtet. Große Angst herrschte, dass ein Selbstmörder im Tode keine Ruhe finden und als Wiedergänger den Angehörigen Unheil bringen könne. Allerlei Vorsorgemaßnahmen gegen dieses Wiedergängertum waren bekannt; so versuchte man den Leichnam durch das Abtrennen des Kopfes, Pfählen oder Verbrennen unschädlich zu machen. Wenn – entgegen der Regel – Selbstmörder auf einem Friedhof bestattet werden durften, dann ausschließlich an abgelegenen Stellen. Oftmals wurden die Körper an Hinrichtungsstellen (z.B. Galgen) ohne kirchlichen Segen verscharrt.
Auch die evangelischen Konfessionen teilten die Meinung der katholischen Kirche. Der Reformator Martin Luther war der Auffassung: Selbstmörder werden vom Teufel zu ihrer Tat getrieben! In Deutschland ist ein Selbstmordversuch juristisch nicht mehr strafbar, wohl aber in angloamerikanischen Ländern.
In Stiepel wohnte einst ein roher und habgieriger Bauer. Ihm war sein ererbter Hof nicht groß und nicht reich genug, deshalb beging er Grenzfrevel.
Er versetzte nachts heimlich die Grenzsteine, die seine Felder markierten, ein Stück weiter auf die nebenan liegenden Äcker. Auch scheute der Bauer nicht davor zurück, die Leute auf dem Markt zu betrügen und Nachbarn zu bestehlen. Sein unseliges Treiben gipfelte in einem heimtückischen Mord: Hinterrücks erschlug er einen Kaufmann. Nun war das Maß seiner Verbrechen voll. Der Bauer wusste: Es würde nicht mehr viel Zeit vergehen, bis das Stiepeler Halsgericht ihm zu Leibe rücken würde. Er fürchtete sich. Er fürchtete sich so sehr vor der ihn erwartenden harten Strafe, dass er beschloss, sich eher selbst zu töten, als elendig am Galgen aufgeknüpft zu werden.
Und so geschah es dann auch: Der habgierige Bauer nahm sich das Leben. Seitdem war er dazu verdammt, allnächtlich auf dem väterlichen Hof sein Unwesen zu treiben. Sein Bruder, der den Hof erbte, wollte nicht an einen nächtlichen Spuk glauben, sondern vermutete einen übermütigen Knecht oder einen Dieb hinter dem seltsamen Geschehen. Eines Abends lauerte er dem Unbekannten auf. Schon wollte der Bauer auf die um Mitternacht erscheinende Gestalt einschlagen, als er zu seinem größten Schrecken seinen verstorbenen Bruder in der Erscheinung erkannte. Das Gespenst beschwor ihn flehentlich: »Nimm den Fluch meiner Sünden von mir, damit ich die ewige Ruhe finden kann!« Gleich am nächsten Tag bat der neue Hofherr einen frommen Einsiedler, die Seele seines fluchbeladenen Bruders retten zu helfen.
Als nun zur Geisterstunde der Spuk von neuem begann, trat der Einsiedler dem Gespenst mit feierlich ausgebreiteten Händen entgegen und segnete den Verdammten, wobei er laute Gebete zum Himmel sandte. Da umhüllte eine dichte Wolke den bisher so ruhelosen Geist des Verstorbenen; laut begann dieser zu jubeln, und plötzlich hatte die Wolke ihn entrückt. Von dieser Stunde an ist das »Pölterken« genannte Gespenst nicht mehr in Stiepel gesehen worden. Die Seele des Verstorbenen war nun erlöst, endlich hatte sie ihren ewigen Frieden gefunden.
Der Galgen oder das Hochgericht, wie man früher sagte, stand etwa dort , wo die Unterfeldstraße von der Galgenfeldstraße abzweigt.
Im Bochumer Süden waren wohl mehrere Geister beheimatet:
Frau Brakelmann, Querenburg, Auf dem Aspei 47, erzählte mir am 18. September 1995 folgende Sage:
»Ein Grenzsteinversetzer fand im Tode keine Ruhe und war verflucht, mitternachts am Kreuzweg, den Grenzstein auf dem Buckel, hin und her zu wandern.«
Grenzzeichen galten als heilig und unverletzlich. Grenzfrevel wurde mit schweren Strafen geahndet (Enthauptung!).
»War meine Mutter nicht dabei, so erzählte Möhne-Reese schrecklich-schöne Kindergeschichten von alten Räubern und noch älteren Gespenstern. Dass Im Haarmannsbusch (in Stiepel) ein Mann säße, der bei Vollmond immer seufzte: ‚Noch tausend Jahr – noch tausend Jahr...‘« (Wilhelm Herbert Koch).
Die Bauernfamilie Haarmann, schon 1486 erwähnt, gehört zu den ältesten Stiepeler Sippen. Ihr Hof liegt an der Haarstraße 19 und dient gegenwärtig als Weinhandlung. Der ursprüngliche Haarmannsbusch lag dort, wo heute in die gleichnamige Straße Unterm Kolm mündet. Ha(a)r bedeutet Anhöhe. Die Stiepeler Haar bezeichnet einen Höhenzug nördlich der Kosterstraße und Haarstraße.
Damit nicht genug, gab es vor dem Henkenhof, einem ehemaligen wasserumwehrten Rittersitz derer von Dücker (-Brockhauser Straße 216), eine alte Sumpfstelle, nach dem üblen Geruch »Auf dem Pölve« genannt (püölven = stinken). Sie galt als Verdammungsort für hartnäckige Junggesellen: »Die kommen alle noch in Henkens Püölf«, sagte man. (Hinweis von Raimund Trinkaus).
Erich Wagener, Im Haarmannsbusch 47, teilte mir am 15.12.2001 mit: Am Stiepeler Friedhof hauste ein Gespenst. Wenn Kinder es verfolgten bis nach Stiepel-Schrick, war es auf einmal ein Pferd.
Der Stiepeler Friedhof liegt an der Stiepeler Dorfkirche. Stiepel-Schrick liegt im Bereich der Rottelandstraße.
Im Haarmannsbusch (WGS 84: 51.43575° 7.231117°) Stiepeler Dorfkirche (WGS 84: 51.416417° 7.235233°)
Literaturnachweis
- Hüttemann, 30-32; Jahn,230
Hier finden Sie: Im Haarmannsbusch (51.43575° Breite, 7.231117° Länge)
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Dieser Text wurde folgendem Buch von Dirk Sondermann entnommen:
Verlag Pomp, 2004
ISBN 978-3893550678.
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