Der Spökenkieker von Schwelm
Aus Sagenhaftes Ruhrgebiet
Immer wieder erzählen alte Leute gruselige Geschichten von Menschen, die in die Zukunft sehen konnten. »Sie haben das zweite Gesicht«, sagen die einen. »Sie sind mit dem Teufel im Bund«, sagen die anderen. »Sie wissen schon vorher, wer sterben muss im Dorf oder wo der nächste Brand ausbricht, diese Spökenkieker.« Auch in Schwelm gab es einst einen Schreiner, der diese besondere Gabe besaß. Eigentlich hieß er Kaspar Hülsenbeck, weil er aber jedes Gespräch mit dem Ausruf »Achje« begann, nannten ihn die Leute nur noch Achje. Er wohnte in einer winzigen Kate* am Rande der Stadt, und seine Werkstatt hatte er im alten Stall eingerichtet. Da hobelte und sägte und hämmerte er nun Tag für Tag. Seine Arbeit war immer nötig, denn er war Sargtischler. War jemand gestorben im Ort, so ging die Familie zu Achje, um einen Sarg für den Toten auszusuchen. Zuerst dachte sich niemand etwas dabei, dass die Leute jedes Mal einen passenden Sarg fertig vorfanden, nach Größe und Güte des Holzes genau bemessen, als sei er vorbestellt.
Und doch erschien es manchem mit der Zeit unheimlich. Wenn jemand in die Werkstatt kam, rieselte es ihm kühl am Rücken hinab. Aber niemand konnte erklären, warum das so war. Eines Tages traf den Bäckermeister ein furchtbares Unglück. Seine fünfjährigen Zwillingssöhne waren beim Spielen an der Becke in das Wasser gerutscht; die starke Strömung hatte sie mitgerissen und nur noch tot konnte man sie später aus dem Bach ziehen. Das Entsetzen bei den Eltern war groß; dennoch schauderten sie zusammen, als sie am Abend Achjes kleine Werkstatt betraten: Schneeweiß und zentimetergenau standen zwei Kindersärge bereit. Das war für die Leute der Beweis: Achje war ein Spökenkieker. Achje war unheimlich. Achje war vielleicht mit dem Teufel im Bund. Die Nachbarn grüßten ihn wohl noch, auch bekam er abends im Gasthof einen Krug Bier, aber niemand wollte mehr so recht in seiner Nähe bleiben. »Vielleicht sieht er schon, dass ich sterben muss, sieht es und sagt es nicht«, dachten die Leute. Keiner denkt gerne an den Tod. Der arme Sargtischler spürte die Abneigung der Leute. Immer seltener verließ er seine Kate, immer mehr verkroch er sich in der Werkstatt. Und als eines Tages Mienke, die alte, kleine Wäschersfrau von Delle starb, Mienke, die zeitlebens einen schlimmen Buckel gehabt hatte, da war ihr Sarg schon fix und fertig. Und Meister Achje hatte eine tiefe Mulde gezimmert, in die der Buckel genau hinpasste. So vergingen die Jahre und Achje wurde einsam alt. Da kam eines Tages der Pfarrer in Achjes Werkstatt und sagte: »Willst du nicht aufhören zu arbeiten? Deine Kraft lässt nach, deine Augen sehen ungenau, dein Atem wird kurz. Im Altmännerheim kannst du ruhig deinen Lebensabend verbringen. So sollst auch eine kleine Rente bekommen.« Der Sargtischler aber schaute den Pfarrer aus dunklen Augen so tief und seltsam lange an, dass der Pfarrer schnell zum Kreuz an seiner Brust griff. »Achje, jeder hat seine Zeit«, sagte der Schreiner und führte den Kirchenmann schlurfend zur Tür. Drei Tage später stürzte der Pfarrer in seinem Haus die steile Holzstiege hinunter und stieß so unglücklich mit dem Kopf gegen die Stufen, dass er starb. Nebenan vor der Kirchtür stand schon fertig der Sarg. Das war zu viel! Was erlaubte sich dieser Sargtischler! Aufgeregt munkelten die Leute die Geschichte weiter und als die Beerdigung des Pfarrers vorüber war, da marschierte die gesamte schwarze Trauerschar zu Achjes Werkstatt. Die kleine Kate lag still wie immer da. Die Balken vom Fachwerk waren frisch gestrichen, die Wände neu geweißt, die Schlagläden leuchteten in hellem Grün. Auf dem kurzen Weg zur Werkstatt lag neuer Kies, der knirschte unter den vielen Tritten. Der mutigste der Männer stieß die Tür zur Werkstatt auf. Stille. Säuberlich lag jedes Werkzeug an seinem Platz. Frisches Holz duftete im Raum. Zögernd schoben sich die Frauen nach, krochen die Kinder nach vorn. Keiner sprach ein Wort, aber jeder konnte es jetzt sehen: Der Sargtischler lag im feinsten Sonntagsanzug mit gefalteten Händen und geschlossenen Augen in seinem letzten Kiefernsarg. Kein Lufthauch rührte sich. Später erzählten die Leute beschämt, auf seinem Gesicht sei ein Lächeln gewesen, voller Frieden, als habe er denen vergeben wollen, die ihm misstraut hatten.
Anmerkungen
Zu allen Zeiten hat es Männer und Frauen gegeben, von denen gesagt wurde, dass sie in die Zukunft sehen könnten. Die Menschen fürchteten solche unheimlichen Begabungen und sie erfanden und erzählten immer neue Geschichten darüber.(Schmidt)
Literaturnachweis
- Renate Schmidt-V., Gustav-Adolf Schmidt, Sagen und Geschichten aus dem Ennepe-Ruhr-Kreis, 2. Aufl. Schwelm 2001, S. 17f.
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