Das Wunderkästchen

Aus Sagenhaftes Ruhrgebiet

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Der Westbau des Hauses Langendreer (2005)

- Ein Langendreerer Schildbürgerstreich -

Ja, es stimmt, Wennemar Christiani, der Pfarrer der Christuskirche, musste 1650 wegen »Blödigkeit des Verstandes sein Amt niederlegen und darauf in ein Schulamt eintreten« (Jäckel), aber was bedeutet das schon? Sofern wir nur weit genug in die Geschichte zurückgehen, findet sich an jedem Ort mannigfache »Blödigkeit«. So hätten wir zum Beispiel vor 130 Millionen Jahren im damaligen »Seebad« Langendreer bestimmt irgendwelche degenerierten Saurier angetroffen, die zu tief in die Kreide geraten waren (Meyer). Daher kann ich Pfarrer Alberts nur beipflichten, wenn er sagt:

Neid ist es, »ein klein wenig Neid«, wenn manche Leute behaupten, die Langendreerer hätten einen »langen Dreh«, also eine »lange Leitung«, und bei ihnen »falle der Groschen nur langsam«.

»Denn immerhin weist die Geschichte Langendreers nach, dass hier tüchtige und einflussreiche Menschen gewohnt haben, die – im Laufe der Zeiten – immer wieder die Nachbarschaft geistig beeinflusst und auch in fernen, fremden Ländern ihren Mann gestanden haben.«

Diesen Worten von Pfarrer Alberts hat der Herausgeber dieses Buches, der übrigens ebenfalls über 35 Jahre in Langendreer wohnte, nichts hinzuzufügen. Doch kennen Sie die Schildbürgerstreich-Geschichte vom »Langendreerer Wunderkästchen?«

Als 1850 das Amt Langendreer eingerichtet wurde, beschränkte sich der Amtsgemeinderat bei seiner ersten Sitzung auf das Wesentlichste: nämlich auf die Einrichtung eines Gefängnisses in Langendreer. (Der Ort hatte seit der Napoleonischen Neuordnung im Jahre 1809 zu Witten gehört, und dort mussten bis dato auch die Gefangenen arretiert werden.)

Und los ging es! Der Bau schritt zügig voran. Im März 1853 nun hatte ein örtliches Ratsmitglied den Drang nach Höherem und beschloss, die obere Etage des zukünftigen Gefängnisses zu begutachten. Als er seinen kühnen Plan in die Tat umsetzen wollte, wurde er bitter enttäuscht, denn die Bauarbeiter hatten leider vergessen, eine Treppe einzubauen. Nach einigem Hin und Her wurde festgestellt, dass schon in der Bauzeichnung die Treppe fehlte.

Also wurde der Plan (zum dritten Mal) geändert, und da man nun schon einmal dabei war, sollte der Baumeister statt der bisher vorgesehenen Kettenkammer, in der mit Halseisen, Handfesseln und Fußkugeln für das leibliche Wohl zukünftiger Gefangener hätte gesorgt werden sollen, nun ein »molliges Wohnzimmerchen mit einem Fenster zur Straße einrichten, damit die Frau Kerkermeisterin, deren Gatten man sich doch wohl als Nutznießer der Wohnräume gedacht hat, auch den lebhaften Verkehr auf der damaligen Hauptstraße des Ortes, der Unterstraße}}, beobachten kann«. (Tetzlaff)

Während des wiederum »rüstig fortschreitenden Baues« verspürte ein anderer Amtmann den Drang, die tieferen Regionen des künftigen Gefängnisses zu inspizieren, sah sich jedoch daran gehindert, weil das Kellergeschoss fehlte. Was soll's – der Plan wurde zum vierten Mal geändert...

Nach einem weiteren halben Jahr kamen die Langendreerer Offiziellen zu dem weisen Entschluss, statt eines Gefängnisses doch lieber ein Amtshaus mit einigen Arrestzellen zu bauen: kein Problem – Papier ist geduldig, und nachdem der Baumeister für die abermalige Änderung des Planes weitere 41 blanke Taler erhalten hatte, radierte und korrigierte er wiederum an der Zeichnung herum. Alles lief nun bestens, bis zu einem denkwürdigen Tage im März 1854. Ein Bürgervertreter des Ortes kam, sah und fragte sich, wo die Gefangenen denn ihr »Geschäft« verrichten sollten – tja – man hatte versäumt, Toiletten einzubauen. Aber zwischen den Zellen war ja noch Platz für ein stilles Örtchen, und da man mal wieder beim Umbauen war, wurde auch gleich ein Stall angebaut und der Garten eingefriedet.

»Die Räume wachsen, es dehnt sich das Haus«, sagten diejenigen Amtsräte, die das Glück hatten, noch zu ihren Lebzeiten das Ende der rastlosen Bauarbeit erleben zu dürfen. Jetzt konnte der Herr Bürgermeister seinen »Amtspalast« beziehen. »Aber kaum war er darin eingezogen, da gab es eine neue Schwierigkeit. Als die Frau des Bürgermeisters just mit einem Körblein, voll mit den für ihr Bübchen notwendigsten Wäschestücken, auf den Trockenboden steigen wollte, konnte sie in dem 28 Fuß (ca. 9,3 Meter) langen und 26 Fuß (ca. 8,6 Meter) breiten Riesengebäude die Bodentreppe nicht finden. Sie irrte umher, als wenn sie in das Bochumer Rathaus verschlagen worden wäre, aber die Bodentreppe fand sie nicht. Einer Baukommission gelang es, endlich festzustellen, dass eine Bodentreppe auch tatsächlich nicht vorhanden war; sie fand aber heraus, dass eine ‚Handleiter‘ genügen würde, um in die obersten Regionen des Hauses hinaufsteigen zu können.« (nach Tetzlaff)

Dem Herausgeber dieses Buches ist nicht bekannt, ob die Langendreerer damals von sonnigem Wetter verwöhnt wurden, sicher ist aber, dass es um den 8. Juni 1854 im Ort geregnet haben muss, denn gerade an diesem Tag bemerkten die stolzen Amtshausbewohner, dass Dachrinnen nicht vorhanden waren, worauf die Amtsversammlung bezüglich dieses neunten schweren Missgeschicks beschloss: »Die Beschaffung von Dachrinnen mag jemandem im Akkord übertragen werden.«

Im September desselben Jahres wurde es kalt im Land. Nicht weiter tragisch, denken Sie? Im Regelfall sollten Sie Recht behalten, doch entspricht dieses Amtshaus der Regel? – Ein Ofen fehlte, der Sekretär fror! Zweifellos ein Tagungsfall für die zehnte Verordnetenversammlung in Sachen »Amtshaus«. Man beschloss, einen billigen Büroofen zu erwerben. Leider gab es jedoch für so wenig Geld, wie man auszugeben gewillt war, keinen Ofen, worauf man dem Sekretär, »weil frierend«, eine Gehaltszulage von acht Talern bewilligen musste, damit er sich einen Mantel kaufen konnte.

Nur am Rande sei bemerkt: Von diesen acht Talern zusätzlich hätte man einen guten Ofen kaufen können!

Ist diese Baugeschichte nicht schildbürgerlich? Schon deswegen hätte dieses Haus »Wunderkästchen« heißen können. Aber – nur wenige Jahre diente das Gebäude seinem ursprünglichen Zweck. Danach wohnte für lange Zeit ein Polizeibeamter namens »Wunder« in diesem Haus, dessen Arrestzellen er fleißig füllte. Nach ihm wurde das Haus dann »Wunderkästchen« benannt.

Das aus Ziegeln erbaute Amtshaus hat links neben dem alten Fachwerkgebäude auf der Unterstraße 12 gestanden (dort, wo das Postgebäude steht).

Übrigens – während der Kaiserzeit hat auch der Urgroßvater des Herausgebers wegen der Teilnahme an einer verbotenen Veranstaltung zum l. Mai für einige Tage die Bekanntschaft mit dem »Wunderkästchen« machen dürfen. Die Christuskirche liegt neben der Alten Bahnhofstr. 20.

Unterstr. (WGS 84: 51.47355° 7.32335°)

Literaturnachweis

  • Tetzlaff, 57f.; Jäckel, 28; Alberts, 15; Meyer, 5


Hier finden Sie: Unterstr (51.47355° Breite, 7.32335° Länge)

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Dieser Text wurde folgendem Buch von Dirk Sondermann entnommen:

Bochumer Sagenbuch.
Verlag Pomp, 2004
ISBN 978-3893550678.




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